Ausgabe 06 - 2006 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

Die feuchten Höschen Deutschlands

Im Deutschen Historischen Museum wurde die Ausstellung Deutsche Geschichte

in Bildern und Zeugnissen eröffnet

In Japan ist es bekanntlich gang und gäbe, daß Mädchen im schulpflichtigen Alter ihre getragenen Unterhosen feilbieten, um sich ein kleines Zubrot zu verdienen. Typische Käufer sind Herren im besten Mannesalter, die sich riesige Slipsammlungen zulegen. Auf die Frage, warum sie derlei tun, gibt es eine recht schlichte Antwort, die in ihrer freundlichsten Formulierung besagt, daß die Exponate derartiger Sammlungen der sexuellen Stimulanz dienen. Was aber ist so stimulierend an den alten Schlüpfern von Leuten, die man gar nicht kennt? Klare Sache: die Authentizität!

Was dem japanischen Mann aus Gründen der sexuellen Stimulanz recht ist, kann dem deutschen Historiker aus Gründen der nationalen Identität nur billig sein. Dies dachte sich vermutlich jener promovierte Historiker, der nicht nur die Gestalt eines Sumo-Ringers hat, sondern auch der sechste Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland war. Und so erteilte Dr. Helmut Kohl eines schönen Tages im Jahre 1987 den Auftrag, dem Vaterland mal gehörig unter den Rock zu kriechen und eine zünftige nationale Nabelschau zu veranstalten. Zwar ist Kohls Amtszeit längst selbst schon zur eingetrockneten Bremsspur jüngerer deutscher Geschichte geworden, aber der Auftrag wurde jetzt doch noch erfolgreich ausgeführt: Am 2. Juni dieses Jahres hat das Deutsche Historische Museum die Dauerausstellung Deutsche Geschichte in Bildern und Zeugnissen eröffnet.

Nun gut, mehr als 8000 authentische Exponate aus 2000 Jahren deutscher Geschichte auf 7500 Quadratmetern. Das ist nicht gerade wenig. Ich muß mich ranhalten. Aber was soll's, ist ja schließlich nicht meine erste Großausstellung! Also, ab dafür!

Zack, erste Abteilung: „Frühe Kulturen und Mittelalter". Mosaike, Glaswaren, Schmuck, viele Ritterrüstungen und noch mehr Waffen. Alles in schicken Glaskästen, die zumeist in Trennwände eingelassen sind. Alles nett ausgeleuchtet, wie in einer Gucci-Boutique. Dann der erste Höhepunkt: das Fragment eines altniederdeutschen Epos über das Leben Jesu Christi. Das älteste authentische Schriftzeugnis der Ausstellung. Einfach toll! Schnell weiter. Zweite Abteilung: „1500 bis 1648". Luther, die konfessionelle Spaltung und der Dreißigjährige Krieg. Eine authentische Luxusausgabe der ersten vollständigen Bibelübersetzung ins Neuhochdeutsche. Wahnsinn! Und natürlich: tolle Waffen! Ja, immer wieder diese tollen Waffen. Irgendwie echt authentisch! Die Zeit drängt. Dritte Abteilung: „1648 bis 1789". Preußen vs. Österreich. Tolle Kanonen, tolle Kleidung! So schöne Uniformen gibt es ja heutzutage gar nicht mehr! Kunst und Philosophie dürfen natürlich auch nicht fehlen. Statt Krieger und Henker auch mal Dichter und Denker! Großartig: Gipsbüsten, so weit das Auge reicht. Voltaire, Diderot, Kant, Goethe, Schiller, Schirrmacher ­ die Aufklärung erreicht ihren Höhepunkt! Ich bekomme den meinigen jedoch erst, als ich in der vierten Abteilung „1789 bis 1871" den wirklich echt authentischen Zweispitz von Napoleon sehe. Unglaublich!

Dann die Zigarette danach, und ab in die Nationalversammlung! Anschließend schnell noch Industrialisierung. Jetzt kommt Marx. Und da ist auch schon Lassalle. Und Bismarck, immer, immer wieder Bismarck! Fünfte Abteilung: „1871 bis 1918/19". Sedan, Reichsgründung, Sozialistengesetze, Sozialpolitik und Kolonien in Afrika. Ja, da ging ein Ruck durch's Land. Könnten sich diese ganzen arschlahmen ALG-II-Empfänger mal ein Beispiel dran nehmen, an diesem Bismarck! Nicht jedoch an Wilhelm II., denn der verspielte ja bekanntlich sämtliche Standortvorteile und ließ zwischen 1914 und 1918 potentielle ausländische Investoren ermorden, was schließlich dazu führte, daß seine eigene Stelle abgebaut wurde. So geht's ja nun nicht, Herr Kaiser! Aber wie in der sechsten Abteilung „1918/19 bis 1945" wohl auch nicht, deutsches Volk! Erst bürgerkriegsmäßig die Demokratie anpissen, dann immer voll auf Kokain dadaistische Nackttänze aufführen, um sich schließlich einem antisemitischen Hinterwäldler mit überlangen Nasenhaaren an den Hals zu werfen. Der echt authentische Schreibtisch dieses Massenmörders ist übrigens nicht als solcher beschriftet. Warum? Wollte man verhindern, daß dieses Exponat zum Wallfahrtsort deutscher Schreibtischtäter wird? Keine Ahnung, weiter jetzt. Wie könnte man die Shoah in dieser Ausstellung angemessen thematisieren? Keine Ahnung, die Ausstellungsmacher wohl auch nicht. Weiter jetzt! Ruhig atmen! Siebte Abteilung: „1945 bis 1949". Kriegsende, Marshallplan, Blockade, Luftbrücke und eine authentische Originalfahne des Vereinigungsparteitags von KPD und SPD zur SED. Wo ist der authentische Rosinenbomber? Scheiße, ich muß den Rosinenbomber übersehen haben. Noch mal zurück! Jetzt nur nicht nervös werden!

Achte Abteilung: „1949 bis Gegenwart". Gründung von BRD und DDR. Nicht nervös werden! 17. Juni, Bern 1954, Berlin-Ultimatum, Mauerbau, Ulbricht, Chruschtschow, Kennedy und Adenauer, immer, immer wieder Adenauer. Könnten sich diese ganzen arschlahmen ALG-II-Empfänger mal ein Beispiel dran nehmen, am Adenauer. Wo sind seine Boccia-Kugeln? Ah, da sind sie ja! Glück gehabt! Weiter, weiter, gleich hab ich's geschafft. Große Koalition, Notstandsgesetze, 1968, Willy Brandt, Erich Honecker, Olympische Spiele in München, Meinhof,
Baader, Beckenbauer, Helmut Schmidt, Herbst '77, Stammheim ... Stammheim? Hier fehlt doch Stammheim! Wo ist Stammheim? Stammheim ist nicht da. Aber zum Trost gibt es den wirklich echt authentischen Kinderwagen, der bei der Entführung Hanns- Martin Schleyers zum Einsatz kam. Ich kann's nicht fassen, da ist er, der wirklich echt authentische Stadtguerilla-Kinderwagen. Das ist ja unglaublich, das kann man nicht mehr toppen!

Nach diesem ultimativen Höhepunkt der Authentizität jetzt ruhig zum Ausgang. Scheiß auf den Nato-Doppelbeschluß, Wackersdorf, die sogenannte geistig-moralische Wende, den Mauerfall, die Reichsgründung ... äh, Wiedervereinigung. Ich kann nicht mehr. Ich bin schon fast draußen. Ich kann den Ausgang sehen. Aber halt, was ist das? Kann das sein? Kann das wirklich sein? Mein Gott, diese Ausstellungsmacher müssen immer noch eins draufsetzen! Ihr Teufelskerle! Da steht sie, da steht sie tatsächlich: die wirklich echt authentische Aktentasche von Dr. Helmut Kohl!! Die ist ja noch feucht! Ja, so wird Geschichte lebendig!

Ich muß hier raus.

Thomas Hoffmann

 
 
 
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