Ausgabe 06 - 2006 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

Endlose Weiten

Nein, das kann es nicht sein. Es stimmt hinten und vorne nicht. Ich bin definitiv auf dem falschen Planeten gelandet. Warum nicht auf Tomos, wo sich Besitztümer nicht horten und Menschen nicht einsperren lassen, weil die Molekülstruktur dafür zu locker ist? Oder im Narvan-Nebel, wo die Menschen automatisch in eine Art Regenerationsstarre verfallen, wenn sie zu viel Einfluß über Andere gewinnen? Es mag unglaubwürdig klingen: Es soll sogar Gegenden geben, in denen Dinge erst hergestellt werden, wenn sie tatsächlich jemand haben möchte. Dort soll man in den Straßen auf Häuser blicken können, die nicht in gigantische Werbeplakate eingewickelt sind.

Natürlich ist längst bekannt, daß man sich auch in den endlosen Weiten des Alls mit lästigen Projekten wie dem Bau von Hyperraum-Umgehungsstraßen herumschlagen muß. Das tödliche Virus, das mancherorts alle Männer dahingerafft hat, war sicherlich kein Zuckerschlecken ­ zumal die plötzliche Abwesenheit des Geschlechterverhältnisses auch nicht alle übrigen Probleme gelöst hat. Selbst düstere Bilder postapokalyptischer Welten bergen Momente der Befreiung von allumfassender Herrschaft und zeigen Keimzellen für den Aufbau eines gesellschaftlichen Miteinanders, das Unterordnung und feste Regelsysteme durch Selbstbestimmung und gegenseitige Aushandlung zu ersetzen versucht. Die Richtung ist nicht vorgegeben. Fortschritt ist ­ anders als man uns oft glauben machen möchte ­ ein vielschichtiges Nebeneinander von Möglichkeiten. Das ist es, was utopische Räume der Freiheit ausmacht.

Utopien ermöglichen einen veränderten Blick auf unsere Normalität, lassen andere Entwicklungswege und alternative Regeln des Miteinanders aufscheinen. Die Bedingungen des Handelns werden verschoben, um Spielräume außerhalb der goldenen Käfige auszuloten, die unser Leben prägen. Sie weisen weit über das hinaus, was heutzutage als „Reformpolitik" gilt: Eine effektivere Gestaltung und modernisierte Legitimation der bestehenden Verhältnisse. Stattdessen werden die gesellschaftlichen Werte radikal weitergedacht und zu Bildern verdichtet, die uns mit unserem eigenen Selbstverständnis konfrontieren.

Kaum etwas dürfte so langweilig sein wie eine perfekte Utopie, in der alle Probleme wegdefiniert wurden. Spannend wird es dann, wenn Konflikte gerade angesichts veränderter Bedingungen thematisiert werden. Viele utopische Autoren haben aus der Kritik an autoritären Ansätzen gelernt und präsentieren in ihren Erzählungen Widersprüche ohne Anspruch auf eine definitive Lösung. Ihnen geht es vielmehr darum, Möglichkeitsräume und die gesellschaftliche Debatte um die Zukunft zu öffnen. Das Gerede vom Ende der Utopien und der Geschichte will uns weismachen, Zukunft bedeute nur noch Modernisierung. Dahinter steckt nichts anderes als das Aufrechterhalten der bestehenden Ordnung und das Festklopfen eines einmal eingeschlagenen Entwicklungsweges.

Einer solchen Zukunft, die bereits beschlossene Sache sein soll, können wir nur mit der Kraft des Utopischen begegnen. Und die liegt eben nicht in unerreichbarer Ferne, sondern wartet auf uns an vielen kleinen Orten, manchmal schon hinter der nächsten Straßenecke. Wir müssen dazu unseren Blick und unsere Phantasie weiten, neue Anregungen aufnehmen – und sei es im Lichtspielhaus. Denn wir können auch ohne Warp-Antrieb dorthin gelangen, wo nie zuvor ein Mensch gewesen ist.

Tobias Hoepner


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