Ausgabe 06 - 2004 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

Blut und Schweiß

Der Zentral-Vieh- und Schlachthof Berlins

Wasser gibt dem Ochsen Kraft
Dem Menschen Bier und Wein,
Drum' rat ich dir, trink Bier und Wein,
Du willst doch wohl kein Rindvieh sein.

Wenn man heute vom S-Bahnhof Storkower Straße in Richtung Friedrichshain schaut, sieht man keine Rindviecher mehr und auch keine Lokale, in denen Bier oder Wein ausgeschenkt wird. Selbst „Peti's Treffpunkt" neben dem Dänischen Bettenhaus, das sich zusammen mit ein paar Supermärkten und Möbelhäusern neuerdings hier breit macht, mußte bereits nach kurzer Zeit wieder schließen. Sonst sieht man nur die schon seit Jahren bekannte große Brache mitten in der Stadt mit ein paar leerstehenden denkmalgeschützten Ge- bäuden oder Stahlgerippen. Am 1. März 1881, als man hier den städtischen Vieh- und Schlachthof eröffnete, war es noch das Gelände, das belebt war, dafür war die Umgebung tot – der neue Schlachthof lag damals noch weit vor den Toren der Stadt.

kontrollierte Fleischbeschau

Der Gründung vorausgegangen waren mehrere Cholera-Epidemien, die den damaligen städtischen Eliten nahelegten, für bessere hygienische Bedingungen zu sorgen. Neben dem Bau einer Kanalisation gehörte dazu die Einführung einer obligatorischen Untersuchung von Fleisch nach Krankheitserregern. Bereits 1864 beantragte deshalb der liberale Mediziner Rudolf Virchow in der Stadtverordnetenversammlung den Bau eines kommunal betriebenen Schlachthauses. Die Fleischbeschau sei nur auf einem öffentlich kontrollierten Vieh- und Schlachthof möglich, so die liberale Argumentation, außerdem sei es eine der vordringlichsten städtischen Aufgaben, die preiswerte Versorgung der schnell wachsenden Großstadt mit Fleisch als einem der wichtigsten Nahrungsmittel sicherzustellen.

Der größte Widerstand gegen die Pläne kam aus der Berliner Schlachterinnung, die ihr Handwerk in Gefahr sah. Tatsächlich sollte die Einrichtung eines zentralen Schlachthofes ausdrücklich die Machenschaften der Schlachter kontrollieren helfen. Man hielt diese nämlich pauschal für Ganoven, „die krankes und finniges Fleisch schlachten und für gesundes verkaufen" und die ganz bestimmt nicht freiwillig unter staatlicher Aufsicht ihrem Handwerk nachgehen würden. Deshalb zwang man sie kurzerhand, indem man Schlachtungen nur noch auf dem städtischen Schlachthof für zulässig erklärte und fortan jede Schlachtung anmelden sowie Fleischproben bei den neu gegründeten Fleischschauämtern abgeben ließ.

Außerdem durften nun keine Viehherden mehr durch die Stadt getrieben werden, weil das einer aufstrebenden Residenzstadt nicht gut zu Gesicht stand. Vor allem aber drängte man so die ebenfalls widerborstigen und in ihren Han-delspraktiken mindestens genauso verschrienen Viehhändler auf das Gelände. Zwischen Thaerstraße, Eldenaer Stras-se und Ringbahn entstanden denn auch nicht nur verschiedene Schlachthäuser, sondern neben Verwaltungsgebäuden und Ställen auch Viehmarkthallen, Räume für allerlei weiterverabeitendes Gewerbe wie die Darmschleimerei sowie ein Viehbahnhof mit insgesamt sechs Laderampen. Die Gebäude waren dabei so angeordnet, daß man schwieriger zu treibende Tiere wie Schweine oder Kälber möglichst nah an den Rampen unterbrachte.

Alltag auf dem Schlachthof

Mehr als zwei Drittel der Viehtransporte kamen über die Ostbahn oder die Niederschlesisch-Märkische Eisenbahn aus den damaligen Ostprovinzen Preußens auf dem Viehbahnhof an. Wenn ein Zug einfuhr, warteten bereits die Viehtreiber und die Tierärzte der Veterinärpolizei an den Rampen, um sie in Empfang zu nehmen, zu zählen und auf Erkrankungen zu untersuchen. Die Viehtreiber waren Angestellte der Viehhändler. Sie waren die Könige des Schlachthofs. Sie trieben die Tiere anschließend mit Stöcken in die Ställe. Dabei schlugen sie nicht selten die Tiere blutig, oder es kam zu inneren Verletzungen und Beckenbrüchen, wenn Bullen von hinten auf die Kühe sprangen, um sie zu begatten. Sowohl seitens der Viehhändler als auch von Tierschützern hagelte es deshalb ununterbrochen Anschuldigungen.

An Markttagen trieben sich über 3000 Menschen auf dem Gelände herum: 1000 Schlachter mit 600 bis 700 Gesellen, 800 Händler, 130 Viehexporteure, 300 bis 400 Viehtreiber sowie 300 Fleischbeschauer. Beginn war morgens um acht Uhr und Schluß um halb zwölf, was durch das Hissen und Einholen einer Flagge angezeigt wurde. Da sich die Viehhändler ständig gegenseitig übers Ohr hauten, indem sie zum Beispiel die Tiere noch einmal kräftig fütterten, bevor sie sie auf die Waage brachten, führte die Verwaltung des Schlacht- und Viehhofes noch unter dem ersten Direktor Otto Hausburg zahlreiche Regeln ein, deren Einhaltung man auch genauestens überwachte. An Markttagen war beispielsweise das Füttern nach sieben Uhr verboten. Dabei schwärzten sich die Händler gegenseitig an, weil sie in ständiger Angst lebten, übervorteilt zu werden, zumal sie durch die neue Zentralisierung viel mehr voneinander mitbekamen als vorher.

Auch das Schlachtergewerbe änderte seine Struktur unter den neuen Bedingungen des Zentral-Schlachthofes. Zwar waren die Schlachthäuser nach dem Kammersystem organisiert, in dem jeder Schlachter seine eigene Schlachtkammer hatte, wodurch man den vielen kleinen Privatschlachtern den Umzug auf den Schlachthof etwas erleichterte. Allerdings mußten sie sich auf eine Tierart spezialisieren, denn jedes Tier durfte man nur in dem für seine Art gebauten Schlachthaus töten. Deshalb entwickelten sich immer mehr En-gros-Schlachter, die in allen Schlachthäusern ihre Kammern hatten und Schlachtkolon-nen beschäftigten, die im Akkord zu schlachten und zu zerteilen hatten.

Der Arbeitsalltag der Schlachtergesellen in den Schlachtkolonnen war harsch. Bereits nachts zwischen zwei und drei Uhr begann ihr Arbeitstag und er endete erst abends zwischen acht und neun. Das Hauptergebnis einer Untersuchung von 1900 über die soziale Lage war die Forderung nach Einführung der Sechs-Tage-Woche. Wegen der langen Arbeitszeiten und der überdies schlechten Bezahlung gab es praktisch keine verheirateten Schlachtergesellen. Die meisten mieteten sich in unmittelbarer Umgebung als Schlafburschen ein. Sie arbeiteten nicht nur auf dem Schlachthof, sondern lebten auch dort und pendelten zwischen Schlachthof, Schenke, Puff und Bett.

Erst 1908 reichte die Berliner Wohnbebauung bis an das Schlachthofgelände, das man 1895 bis zur Landsberger Allee erweitert hatte. Durch dessen vorher abseitige Lage entwickelte sich der Schlachthof zu einer eigenen Kleinstadt: Es gab Restaurants, Wirtshäuser, Banken und Läden für den täglichen Bedarf. Die ersten Geschäfte öffneten bereits um zwei Uhr nachts, wenn die Viehtransporte am Bahnhof eintrafen. Auch der „Kälberkeller", das Stammlokal der Viehtreiber, das sich direkt an den Gleisen des Viehbahnhofs befand, bewirtete bereits so früh seine Gäste.

Seitdem Berlin bis an den Schlachthof reichte, war dieser nicht mehr isoliert und bestimmte fortan auch den Rhythmus und die Atmosphäre des angrenzenden neuen Viertels. Glaubt man alten Schlachtern, gab es in der Hausburgstraße und in der Eldenaer Straße einst mehr Kaschemmen als Hausnummern. Die Gaststätten dienten nicht nur der Geselligkeit und der Betäubung, sondern auch als Versammlungsorte der verschiedenen Vereine und Innungen. Nirgendwo sonst in Berlin konnte man darüberhinaus so viele Buchmacherläden finden wie hier. Die Schlachter wetteten leidenschaftlich gern, am liebsten auf Pferde.

In den zwanziger Jahren zog auch der Fleischgroßmarkt, der vorher am Alexanderplatz sein Domizil hatte, in die Nähe des Schlachthofes nördlich der Landsberger Allee. Nun strömten an Markttagen um die 30000 Menschen hierher, was haufenweise fliegende Händler anzog, die sich, weil sie keine Läden mehr abbekamen, einfach mit einem Bauchladen oder einem Tisch auf die Hausburgstraße oder die Landsberger Allee stellten und von Strümpfen und Schuhen über Schirme bis zu Medikamenten oder Zigarren einfach alles im Angebot hatten.

Vom Fleischkombinat zum autofreien Wohnen

Von all dem Treiben blieb nach dem Zweiten Weltkrieg nicht viel übrig. Die alliierten Luftangriffe zerstörten 80 Prozent der Bauten, besonders die des alten Schlachthofs östlich der Thaerstraße waren so stark beschädigt, daß man sie größtenteils abriß oder später als Lagerhallen nutzte. Auch die Organisation des Schlachthofes änderte sich grundlegend. Hatten sich 1945 noch einige Großschlachter auf genossenschaftlicher Basis zusammengeschlossen, um den Betrieb weiterzuführen, überführte man ihn 1946 in kommunale Verwaltung und gründete 1952 den VEB Großberliner Vieh- und Schlachthöfe, aus dem 1963 der VEB Fleischkombinat Berlin hervorging. Das volkseigene Schlachthaus war organisiert wie ein Industriebetrieb mit Fließbändern, der bis Ende der siebziger Jahre 30 Prozent des geschlachteten Viehs nach Westberlin lieferte. Auf dem Betriebsgelände wurde auch zu DDR-Zeiten nicht nur gearbeitet. In der betriebseigenen Kindertagesstätte zog man bereits die nächste Generation der Schlachtergesellen groß, es gab Frauenruheräume, ein Kulturhaus und zeitweise sogar einen Betriebsfunk, der mit seinen Sendungen half, „den Aufbau des Sozialismus schneller zu verwirklichen", wie es in der Festschrift zum 75-jährigen Bestehen des Schlachthofs heißt. Nach dem Ende der DDR nannte sich das ehemalige Fleischkombinat SBV-Fleisch Berlin GmbH. 1991 wurde die Firma liquidiert.

Heute erinnert nicht mehr viel an den alten Vieh- und Schlachthof. Nur im „Eisbeineck" in der Proskauer Straße trifft man auch heute noch ein paar inzwischen arbeitslose Fleischer beim Zechen. Ob die sich mit den Vegetariern verstanden hätten, die man auf dem Schlachthofgelände im Zuge eines Pilotprojektes für autofreies Wohnen ansiedeln wollte, muß offen bleiben. Nichts von dem, was die Stadtplaner seit der Wende mit dem Gelände vorhatten, wurde verwirklicht.

Dirk Rudolph

 
 
 
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