Ausgabe 06 - 2004 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

Wer nicht arbeitet, soll auch nicht gesund werden

Seit geraumer Zeit wird arbeitslosen Schwerkranken das Krankengeld verweigert

Im Mittelalter galt einer, der der Sorge bedurfte, als tugendhaft, denn er öffnete dem Sorgenden den Weg zum Seelenheil. Leider ist der Parameter „Seelenheil" passé. Die Sorge mußte gesellschaftlich anderweitig verankert werden und wurde an das „Recht" gekoppelt. Solange der Mensch arbeiten kann, zahlt er in diverse Versicherungen oder Sozialkassen ein, um sich das Recht zu erkaufen, falls er krank oder lahm wird, verdientermaßen umsorgt zu werden.

Daß diese Art von „Gesellschaftsverträgen" unsicher sind, zeigt sich dieser Tage bereits an der Debatte um die Arbeitslosenhilfe. Obwohl hier ein Recht erworben wurde, ist es längst nicht mehr Konsens der Gesellschaft, daß es, wie vereinbart, in Anspruch genommen werden darf. Etwas ist im Umbruch. Wer nicht arbeiten kann, wird zum Empfänger von Almosen ­ nur daß diese keine sittliche Verankerung haben und jemand, der nicht arbeiten kann, auch nicht geachtet wird.

Seit einiger Zeit werden Fälle vor Gericht verhandelt, in denen das Recht bestimmter Arbeitsloser auf Krankengeld nicht mehr selbstverständlich scheint. Einer von ihnen betrifft die 37jährige Silka Baumgarten aus Berlin. Im April vergangenen Jahres wurde sie arbeitslos. Drei Monate später stellte ein Arzt Krebs bei ihr fest. Sie dachte über zweierlei nach: Wie verhält man sich angesichts der Diagnose einer sehr schweren Krankheit? Und wie verhält man sich gegenüber dem Arbeitsamt? Arbeitslose haben, wenn sie krank werden, da sie die Leistungen einer Versicherung beziehen, eigentlich die gleichen Rechte wie Arbeitende auch: Lohnfortzahlung im Krankheitsfall über sechs Wochen, anschließend Krankengeld von der Krankenkasse über maximal 78 Wochen. Während ein gesunder Arbeitsloser verpflichtet ist, sich ständig darum zu bemühen, seine Erwerbslosigkeit zu beenden, ist der Kranke vorübergehend davon befreit. Das Verfahren ist logisch, da sich ein kranker Mensch schwer auf dem Arbeitsmarkt anbieten kann. Insofern ist es ­ so widersinnig es klingt ­ auch für einen Arbeitslosen relevant, ob er Krankengeld bekommt.

Silka Baumgarten bekam stattdessen nach sechs Wochen „Lohnfortzahlung im Krankheitsfall" einen Brief ihrer Krankenkasse. Diese teilte mit, sie habe keinen Anspruch auf Krankengeld. Ihren Unterhalt bezahle das Arbeitsamt. Ein Irrtum, dachte Baumgarten und erhob sofort Einspruch. Sie sei krank, habe demzufolge bei ihrer Krankenkasse das Recht auf Krankengeld, schrieb sie. Die Antwort der Kasse lautete sinngemäß: Richtig. Ihr Pech ist jedoch, daß Sie nicht nur krank, sondern schwerkrank sind und wir angesichts dessen nicht erwarten, daß Sie vor Ablauf von sechs Monaten wieder arbeitsfähig sind. Es tritt daher ein spezieller Paragraph (125 SGB III) in Kraft, der für aussichtslose Fälle erdacht wurde. Solche, die ihren gesamten Anspruch auf Krankengeld über 78 Wochen ausgeschöpft haben und noch immer weder genesen noch gestorben sind. Diese Menschen werden dann vom Arbeitsamt vorübergehend weiterversorgt, in Erwartung, daß sie bald sterben oder in Frührente gehen. Und weil wir bei Ihnen schon jetzt erwarten können, daß es so kommen wird, tritt dieser Paragraph sofort in Kraft.

Silka Baumgarten, die mittlerweile mit Sorgen um Chemotherapie beschäftigt war, bekam einen Schreck. Abgesehen davon, daß man ihr nonchalant mitteilte, man behandele sie als aussichtslosen Fall, hatte die eigenartige Sicht
ihrer Krankenkasse praktische Folgen: Wenn ihr der Status eines Kranken nicht zuerkannt würde, müßte sie sich rechtlich betrachtet um Arbeit bemühen. Andernfalls würde ihr Anspruch auf Arbeitslosengeld regulär nach sechs Monaten enden. Anschließend müßte sie sich „bedürftig" erklären. Angespartes inklusive ihrer Lebensversicherung, die sie als Absicherung für ihre Kinder zurückgelegt hat, müßte sie dann ausgeben, um über die Runden zu kommen. Erst dann stünde ihr eine weit geringere Arbeitslosenhilfe zu. Die Argumentation ihrer Kasse überzeugte sie keineswegs. Denn nur weil es eine Regel gibt, dachte sie, wie ein Schwerkranker versorgt werden kann, der sein Krankengeld „aufgebraucht" hat, heißt das ja nicht, daß man einen Schwerkranken von vornherein um seinen Anspruch prellt.

Baumgarten wandte sich an das Arbeitsamt, schilderte das Problem und forderte, die Bundesanstalt für Arbeit solle die Zahlungen einstellen. Sie wolle „nicht am Ende aus den Leistungen herausfallen, ohne jemals vermittlungsfähig gewesen zu sein". Das Geld müsse von der Krankenkasse kommen, beharrte sie. Notfalls müsse das Arbeitsamt die Zahlungen von der Krankenkasse einklagen. Als Baumgartens Einspruch abgelehnt wurde, war sie gerade bei einer Rehabilitationskur und konnte selbst nicht reagieren. Die Tochter besorgte einen Anwalt.

Der Anwalt reagierte verhalten. Nach all den Hartz-Debatten könne er sich durchaus vorstellen, daß mit Arbeitslosen mittlerweile so umgegangen werde, sagte er. Baumgarten erschrak ein zweites Mal. Ein Berater von ver.di, den sie konsultierte, dachte ebenso. Notgedrungen recherchierte die Krebskranke ihren Fall nun selbst. Den geheimnisvollen Paragraphen, der im Volksmund der Juristen auch „Nahtlosigkeitsregel" genannt wird, verwenden die Krankenkassen seit dem Jahr 2000 als gängige Praxis, um die Ansprüche schwerkranker Arbeitsloser auf Krankengeld zurückzuweisen, fand sie heraus. Im selben Jahr wurde bereits ein erstes Urteil in dieser Sache gefällt. Ein Krebskranker aus Cottbus hatte in zweiter Instanz Recht bekommen, als er vor Gericht gezogen war. Unter Rechtsanwälten werden derartige Fälle bereits diskutiert, erfuhr sie über Netzrecherchen. Juristen kritisierten eine „rechtswidrige Praxis der Kassen". In der Öffentlichkeit allerdings blieb es darum bislang still. Einen jüngsten Fall entschied am 3. Juni das Bundessozialgericht. Ein Arbeitsamt hatte geklagt und die Krankenkasse um Zahlungen angegangen. Diese hatte abgelehnt ­ mit Hinweis auf den „Aussichtslose-Fälle-Paragraphen" und war vor Gericht gescheitert. Nach Baumgartens Erkundungen schätzte ihr Anwalt ihren Fall schließlich als aussichtsreich ein und nahm ihn an.

In einem Brief an den Anwalt schrieb Baumgarten, sie hoffe dringend, „daß ihre Klage über eine Einzelfallentscheidung hinaus wirksam werde". Es ginge bei der strittigen Angelegenheit längst nicht um Leistungsbezug allein, sondern darum, ob Kranke Anspruch auf einen geschützten Raum hätten oder nicht. Zeitweise habe sie sich gehetzt gesehen, eine Arbeit anzunehmen, was sich angesichts der Schwere ihrer Krankheit als lächerlich erwies. Bei einer Universität hatte sie sogar einen Vertrag unterschrieben. Allem voran ginge es aber darum, ob erwerbstätige Kranke und arbeitslose Kranke nun mittlerweile unterschiedliche Rechte hätten. „Ich selbst habe alle Hebel in Bewegung gesetzt, um mich zu wehren", sagt sie. „Aber was macht ein Mensch, der keinen Internetzugang hat? Und was ist mit Maxe Zickenschulte mit Morbus Hodgkin im letzten Stadium?"

Tina Veihelmann

 
 
 
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