Ditte & Menschenkind
Kanale Grande

Es strahlt ein seltsam Licht in der Finsternis, grün, im Nachthimmel über dem S-Bahnhof Adlershof. Menschenkind reißt seine Mütze vom Kopf und grüßt es wie eine Botschaft aus einer anderen Galaxie. „Setz Deinen Scheppdeckel wieder auf, Menschenkind! Da oben, der lange grüne Finger will dich nur locken, in unbekannte Weiten!" Eigentlich kennt sich Menschenkind hier aus. Wie oft ist er mit den vielen anderen hier entlang. Da sucht man nicht mehr. Von dieser Seite konnte der Zukunftsstrahl nicht kommen.

„Menschenkind, bleib hier!" kann Ditte nur noch in den davoneilenden Rücken ihres Gefährten hauchen. Beim Asia-Imbiß mit deutscher Küche wäre Menschenkind gewöhnlich stehengeblieben und Ditte hätte ihn leicht einholen können, lockte ihn da nicht die andere Seite mit ihrem Schilderwald der Verheißungen. Wista, Computer-Meier und die Gesellschaft für innovative Netzdienste, das ist doch was. Menschenkind läßt das wohlvertraute Arbeitsamt Sued-Ost, so steht es auf dem Hinweisschild, rechts links liegen und eilt zum Großen Windkanal, an den Edelstahlpollern und atriumartigen Wissenschaftsspeichern der Humboldt-Universität vorbei, bis er sich endlich an der Abram-Joffe-, Ecke Katharina-Boll-Dornberg-Straße einkriegt und stehenbleibt. Er starrt auf das vor sich hin dämmernde Flugfeld, wo vor dem Ersten Weltkrieg Pioniere die ersten Luftsprünge in ihren fliegenden Kisten machten und wo heutzutage die Kunden der nahegelegenen Agentur für Arbeit sich auf einer kleinen Golfanlage austoben könnten. Wo das Gras schneller wächst, als die Visionen der Stadt- und Landschaftsplaner würden wohl wirklich wahr werden wollen. Aber wann?

Ditte japst. „Da läßt du eine zarte Frau allein an angeketteten Gasflaschen vorbeihuschen. Was ein Motorenhöhenprüfstand wohl mit mir hätte machen können! Und erst das Gefahrstofflager! Mensch, ich wußte gar nicht, daß du geradezu wissenschaftssüchtig bist." Menschenkind nimmt die Mütze vom Kopf und wundert sich. „Wieso? Geradezu! Dort, bitte komm!" Der Große Windkanal! Eine Riesenwurst aus Großvaters Zeiten, die totale Avantgarde! Und daneben so ein Klops aus Beton, der Bunker, der sein eigenes offenes Geheimnis darstellt. „Ach, Ditte, der Trudel-Windkanal! Der muß laut Schild auch hier sein, und dort hinten das Zentrum für Raumfahrt. Licht brennt!"

Ja, hier wird rund um die Uhr geforscht. Jetzt hat es auch Ditte erwischt. „Menschenkind, kneif mich mal. Ich bin doch mit dir hier in Adlershof, gleich nebenan ist Altglienicke. Und nicht weit von hier muß das berühmte Ernst-Ruska-Ufer sein. Sehe ich das richtig?" Menschenkind liebt gut informierte Menschen, Verkehrsinteressierte, und nicht umsonst also hat er Ditte von dieser Verkehrszählungsversuchsstrecke mit zahllosen Parktaschen erzählt. Nun kann er es seiner Ditte zeigen!

Ditte lehnt sich an Menschenkinds breite Brieftasche, als sie sich am Ende der Welt wähnt, markiert von den ritterlich weiß-rot gestreiften Blechbarrieren einer stolzen avenue-ähnlichen Trasse, mindestens gesamteuropäisch, multipel da rot und dort schwarz gepflasterte Radwege, graugranitenes Trottoir! Menschenkind will gucken kucken oder kucken gucken.

„Sieh mal einer an: Die Natur holt sich ihren Teil immer wieder zurück, wenn du ihr nicht unentwegt auf die Finger klopfst und auf ihr herumtrampelst!" Ditte starrt auf das träge Wasser des großen Kanals und die ruppige Ruderalflur, während Menschenkind auf eine tribünenartige Anhöhe vor dem Ufer des Teltow-Kanals zuschreitet, deren flache Mauerfassung stolz, in schwarzem Marmor, den Schriftzug „Ernst-Ruska-Ufer" trägt. „Wohl auch ein Widerstandskämpfer, oder?" Ditte will weg hier. „Also. Ditte, jetzt verschreckst du mich aber. Ernst Ruska erhielt 1986 den Nobelpreis für das 1931 erfundene Elektronenmikroskop! Manches dauert eben etwas länger! So wie dieses zentraleuropäische Silicon Valley hier. Aber bald werden Ausflugsdampfer am Ernst-Ruska-Ufer anlegen, Menschenmassen flanieren und die Parktaschen gefüllt sein!"