Ausgabe 02 - 2002 berliner stadtzeitung
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Multikulturelle Islamkunde

Die Alevitische Föderation will Religionskunde unterrichten

Foto: Knut Hildebrand

„Behersche deine Hände, deine Zunge und deine Lenden!" (Alevitisches Schlüsselgebot)

Ich komme aus einem Land, in dem gesagt wird, 99% der Bevölkerung seien islamischen Glaubens, wo in jedem Ausweis „Religion: Islam" steht, wo sich in jeder Ecke eine Moschee befindet, fünfmal am Tage gebetet wird, massenweise Freitagsgebete stattfinden, Opfer- und Zuckerfeste gefeiert werden. In diesem Land lebten die Aleviten jahrhundertelang in tiefer Unsicherheit. Sie durften nicht einmal sagen, daß sie Aleviten sind. Der Grund dafür war, daß die Türkei als sunnitischer Staat die Aleviten als Spielverderber betrachtete. Selbst wenn man heute einen „guterzogenen Bürger" fragen würde, wer die Aleviten sind, bekäme man meistens eine einzige Antwort: „Kizilbaslar". Wortwörtlich übersetzt „Rotköpfe", bedeutet das Wort aber viel mehr: Blutschande oder Inzest, was so auch im berühmten Türkisch-Deutschen Wörterbuch von Steuerwald steht.

Wer sind eigentlich die Aleviten? Nach dem Tod Mohammeds herrschte ein gnadenloser Machtkampf um die islamische Erbschaft. Ali übernahm das Kalifat (Stellvertreter des Allmächtigen auf Erden) ­ Ali, der nicht nur leiblicher Vetter von Mohammed, sondern auch seine rechte Hand gewesen war und „Der Löwe des Gottes" und „Schwert des Islam" genannt wurde, verlor in diesem Machtkampf sein Leben, später ­ als Alis Nachfolger ­ auch sein Sohn.

Dieses Hin und Her zersplitterte den Islam: erst in die zwei Hauptströmungen Sunniten und Schiiten, dann in mehrere kleinere Gruppierungen und Sekten wie die Aleviten. Wenn man den heutigen „Islamismus" wirklich verstehen will, kommt man an den Aleviten nicht vorbei.

„Alevi" bedeutet „Anhänger von Ali". Obwohl auch die Schiiten Ali nahestehen, unterscheiden sich die Aleviten in der Türkei von ihnen in vielerlei Hinsicht. Neben Kalif Ali sind Haci Bektasi Veli und der alte Freiheitskämpfer Pir Sultan Abdal die Symbole der alevitischen Bewegung. Die Aleviten in der Türkei vermischten den Islam mit den alten Traditionen des Schamanismus, lebten freiheitlicher und weniger autoritär. Frauen bei den Aleviten haben weit mehr Rechte als bei den Sunniten. Weil sie jahrhundertelang verfolgt und unterdrückt wurden, versuchten die Aleviten, in versteckten Dörfern und in den Bergen zu überleben und ihre Identität zu bewahren. Die alevitische Kultur wurde durch Tausende von Liedern und Gedichten weiterentwickelt.

Seit dem blutigen Massaker von Fundamentalisten in der türkischen Provinz Sivas 1993, bei dem 37 alevitische, laizistische und linke Intellektuelle vor den Augen der Massen und des Staates öffentlich verbrannt wurden, schweigen die Aleviten nicht mehr. Sie erheben ihre Stimme und organisieren sich.

Die Spuren dieser Entwicklungen sind auch in Deutschland zu spüren. Es gibt die Alevitische Föderation mit mehreren Tausend Mitgliedern, ein Cem-Haus (Kulturhaus) in Berlin und viele Vereine.

Heutzutage zeigt der Islam in Deutschland durch immer mehr Moscheen, Koranschulen etc. Präsenz. Die verhängnisvolle Terrorattacke in den USA und die Affaire um den Kölner „Kalifatsstaat" haben den Islam in letzter Zeit verstärkt in die Diskussion gebracht. Die zweitgrößte Religion in Deutschland soll mitlerweile der Islam sein. Aber welcher Islam ist gemeint?

Am 23. Februar 2000 fällte das Bundesverwaltungsgericht ein Urteil, wonach die Islamische Föderation Islamkunde als sogenannten Religionsunterricht in Berliner Schulen lehren darf. Nach welchen Kriterien wurde diese Entscheidung getroffen? Deutsche Kriterien sind in solchen Bereichen für mich immer wieder unverständlich. Deutschland unterstützt mit der Islamischen Föderation den Fundamentalismus öffentlich ­ auch nach dem 11. September, obwohl in den türkischen Medien jeden Tag grausame Nachrichten und Warnungen standen.

Der verstorbene Cemalettin Kaplan, Vater des „Kalifen von Köln", hatte vor 13 Jahren öffentlich gesagt: „Der Kommunismus ist tot, jetzt ist die Demokratie dran!" Und es weiß jedes Kind, was die konservativen Islamisten in den Moscheen und Koranschulen tun und lassen, was sie von Integration halten, wie sie drauf sind.Trotzdem soll die Islamische Föderation verantwortlich für islamischen Religionunterricht sein. Was sie anbieten können, ist Propaganda und Intoleranz.

Im Falle des Falles, wenn die alevitischen Organisationen dieses Privileg auch bekommen sollten, wäre mit harten Auseinandersetzungen zu rechnen. Fast alle sunnitisch-islamischen Organisationen erklären ihre Existenz in erster Linie mit der Gottlosigkeit der Nichtmuslime und dann mit der Bekämpfung der kemalistischen Reformen, die Staat und Religion trennten und Freiheit für Frauen, Minderheiten etc. versprachen.

Wenn es um wahrhaftige Integration, um Toleranz und Bildung geht und nicht um gegenseitige Verarschung, dann sollte Religionsunterricht nicht den Rattenfängern überlassen werden, die Religion unverschämt für ihre Propaganda und Þnanzielle Interessen benutzen.

In diesen Kontext erscheinen die alevitischen Organisationen, mit ihrer freiheitlichen, emanzipierten, toleranten und friedlichen Ausrichtung, viel geeigneter für Religionsunterricht als alle anderen Gruppierungen.

Yalçin Baykul

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