Ausgabe 02 - 2002 berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Kontrollkonsum

Der b_books-Reader bignes? von Jochen Becker setzt die Kritik der unternehmerischen Stadtpolitik fort

Wo sich die Stadt immer mehr einer Mall angleicht, erscheint sie als multifunktionales Arrangement aus Freizeit- und Konsumkomplexen, das in seiner Fata-Morgana-Haftigkeit jeden noch so gewollten oder ungewollten Konsumtionsvorgang zum naturhaften atmosphärischen Erlebnisextrakt par excellence werden läßt. Die perfekte Planung unserer Shopping-Paradiese, die Harun Farocki in seiner Dokumentation Die Schöpfer der Einkaufswelten bereits skizziert hat, breitet sich über die ganze Stadt. Fast so, als würde Romeros Konsum-Zombiefilm Dawn of the living dead, dessen Setting eine derartige Shopping Mall bildet, seine Fortsetzung am Potsdamer Platz finden. Architektur und Mall-Philosophie gehen Hand in Hand. Die unternehmerische Stadtplanung freut sich. Rem Koolhaas und sein bigness-Konzept für eine zukünftige Architektur sind hier nicht weit. Und zum Glück auch nicht Jochen Beckers Sammelband.

Der niederländische Architekt Koolhaas kommentiert sein bigness-Postulat: „Mehr Größe braucht die Stadt" am besten selbst mit den Worten: „Bigness ist nicht mehr Teil eines wie auch immer definierten urbanen Zusammenhangs. Ihr Subtext lautet: Scheiß auf Kontext!" Was will man mehr? Die Masse macht's. Für Koolhaas kann allein die unternehmerische Stadtentwicklung inmitten eines „Regimes der Komplexität", das er als eine stadtpolitische und -ökonomische Lobbyakkumulation aus unüberschaubaren Zwängen, Interessen und Konditionen versteht, für Fortschritt sorgen. Koolhaas' vermeintlich apolitisches Konzept nimmt dabei gerade in jenen urbanen konsum- und kontrollorientierten Megaprojekten seine stadtpolitische Gestalt an, die zurzeit allerorts, besonders in ehemaligen Industriebrachen, aus dem Boden sprießen.

Die Texte des Sammelbands von Becker spüren zum einen jenen Machteffekten nach, die sich in einem derartigen Architekturkonzept äußern, zum anderen archivieren sie alternative linke Stadtpraxis der Neunziger. Das Buch präsentiert eine Vielfalt stadtpolitischer Untersuchungen und Initiativen wie A-Clip, InnenStadtAktion, AK Kraak oder park fiction.

Klaus Ronneberger beschreibt in seinem Aufsatz Konsumfestungen und Raumpatrouillen. Der Ausbau der Städte zu Erlebnislandschaften zeigt, wie Investorenarchitektur neue hierarchische Umstrukturierungen im Stadtraum vornimmt. Einzelne Kieze erfahren hier ihre Auf- oder Abwertung ganz im Sinne von Pro- oder Contra-Erlebnislandschaft. Dies wiederum wirkt sich auf die mögliche Vielfalt der Nutzungs- und Aneignungsweisen des öffentlichen Raumes aus. Weder eine Unterwerfung unter derartige homogenisierende Mächte innerhalb der Stadt noch die Abdrängung in Randzonen können gelungene Handlungsalternativen für den städtischen Bewohner sein. Das Urban Entertainment Centre wird zum Modul eines neuen Kontrolltypus, der Kaufverhalten und kommerzielle Raumstrategie in Einklang bringt, so daß Leben zum perfekt kontrollierten Erlebnisvorgang mutieren kann. Und die Überwachungskameras auf den halbprivaten Plätzen dieser Welten bilden das passende Szenario für ein Kontrollkonsum-Arrangement, in dem jeder Passant selbst schon mitarrangiert ist.

Farocki hat gezeigt, wie detailgenau unser Gang hier kalkuliert und organisiert ist. Will sagen: Komm in die Mall – laß dich organisieren, inszenieren, berechnen – werde wunschlos-glückliches Simulakrum! Und die Disneyfizierung in unseren rehistorisierten Stadtkernfakes fängt dich auf, auch wenn du mal die Mall verlassen mußt. Danke Walt, danke Rem!

Ronneberger kritisiert zu Recht nicht einfach die Amerikanisierung, sondern jene Normalisierung und Akzeptanz von Verhaltensstandards inmitten derartiger Gewalt- und Herrschaftsverhältnisse, wie sie uns in den beschriebenen Szenarien entgegentreten.

Jener Regulierung des Lebens als Pseudo-Alltäglichkeit will und kann sich linkes städtisches Handeln nicht nur in der Aktionsform entgegenstellen, auch die passiven Alltäglichkeiten wollen hier beachtet werden. Etwas, das vielleicht in diesem Reader zu kurz kommt, wenn er verschiedene Aufsätze unter der Überschrift Städtisches Handeln versammelt. Aber etwas, das vielleicht erst dieser Reader suchen macht.

Tina Kaiser

Jochen Becker (Hg.): bignes? Size does matter. Image/Politik. Städtisches Handeln. Kritik der unternehmerischen Stadt. b_books, Berlin 2000. 16 Euro

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