Ausgabe 02 - 2002 berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Vertreibung von Obdachlosen

Offener Brief an den Chef der Deutschen Bahn

Sehr geehrter Herr Mehdorn,

Am 16.1.2002 fand eine Podiumsdiskussion unter Beteiligung vieler Betroffener und Berliner Bürgerinnen und Bürger zu dem oben genannten Thema statt. Von der Deutschen Bahn AG nahm ihr Mitarbeiter Herr Meurer an dieser Veranstaltung teil. Anlaß für diese Veranstaltung waren Äußerungen von Ihnen, die den Eindruck entstehen ließen, es sei beabsichtigt, die Obdachlosen aus den Bahnhöfen zu vertreiben. Das soll erreicht werden, indem Sie die Arbeit der Bahnhofsmission im Bahnhofsgebäude beenden wollen. Ihr Mitarbeiter, Herr Meurer, hat diese Pläne konkretisiert. Er hat uns berichtet, daß beabsichtigt ist, der Bahnhofsmission des Bahnhofs Zoo andere Räume am S-Bahnhof Tiergarten zur Verfügung zu stellen.

Grundsätzlich sind Angebote für Obdachlose in dieser Stadt notwendig und sinnvoll und in diesem Sinne begrüßen wir auch die Initiative der Deutschen Bahn. Allerdings haben wir den Eindruck, daß Sie bewußt einen Ort gesucht haben, der eher etwas abgeschieden im Tiergarten liegt. Wir sind deshalb nicht sicher, ob es sich um einen Standort handelt, der den Bedürfnissen der Menschen, die sich an die Bahnhofsmission wenden, entspricht. Keinesfalls darf dieses neue Angebot jedoch dazu dienen, obdachlosen Menschen den Aufenthalt in den Bahnhofsgebäuden zu untersagen. Wir sind der Auffassung, daß Bahnhöfe öffentliche Orte sind und Räume der Kommunikation. Damit sollten sie auch die Lebensrealität in den Großstädten widerspiegeln. Durch die Ansiedlung von Geschäften und vielfältiger Gastronomie haben Sie selbst dazu beigetragen, die Funktion der Bahnhöfe in diese Richtung zu erweitern. Bahnhöfe sind offenbar auch nach Ihrem Verständnis nicht nur Orte, an denen Reisende ein-, aus- und umsteigen. Wir erwarten, daß sich dieses Verständnis auf alle Menschen bezieht, die aus welchen Gründen auch immer, den Bahnhof aufsuchen.

Die Ausgrenzung von Menschen, weil ihre Kleidung ärmlich ist, weil sie dort sitzen und ihr Bier trinken oder ähnliche Abweichungen von der bürgerlichen Norm zeigen, können wir nicht akzeptieren. Wir möchten betonen, daß auch wir Kundinnen der Deutschen Bahn sind und uns das Leben in den Bahnhöfen nicht stört, sondern wir es als eine lebendige Vielfalt erleben und so erhalten wollen.

Wir hoffen sehr, daß dieses Schreiben und die zahlreichen anderen Äußerungen, die Sie, wie wir wissen, erreicht haben, dazu beitragen werden, daß Sie Ihre Pläne überdenken.

Sozialarbeiterinnen
des Bezirksamtes Friedrichshain-Kreuzberg

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  Ausgabe 02 - 2002