Ausgabe 01 - 2001berliner stadtzeitung
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Alle Untertassen im Schrank?

Independence Day für braune Zwergenhirne

Für einige eingeweihte Esoteriker, vor allem für die, die im braunen Bereich angesiedelt sind, könnten die ungeheuren düsteren Raumschiffe des Films „Independence day", die über den Metropolen der Welt gleich einem Menetekel schwebten, Metapher für eine andere, aber genauso furchtbare Bedrohung sein. Geheime Mächte, die der Kundige genau benennen kann, sind dabei, die Welt zu versklaven, und stehen dabei mit außerirdischen Mächten im Bunde. Was sich wie eine durchgeknallte Story liest, ist für einige Offenbarung über das dunkle Treiben der Freimaurer und deren Pläne, die Welt zu vernichten.

Ist die Sache so, sehr ernst, und hat sich nicht das drohende Verhängnis mit dem „Wahlsieg" des neuen amerikanischen Präsidenten manifestiert? Trotz einer möglichen Wahlfälschung in Florida, trotz totalen budgetären Fehlmanagements seines Vaters, trotz der wirtschaftlichen Prosperität unter der vorigen Administration, gewählt wurde ein Mann, dessen Farblosigkeit und Inkompetenz nur von seiner Bösartigkeit übertroffen werden. Dieselbe Mannschaft, die den Golfkrieg und die „neue Weltordnung" inszeniert hatte, hat es jetzt geschafft, einen mutmaßlichen ehemaligen Kokainschnüffler und wirtschaftlichen Bankrotteur, dessen Vita so dürftig ist, dass ihn keine mittelständische Firma in eine verantwortungsvolle Position übernehmen würde, als den mächtigsten Mann der Welt zu installieren: Wer hier jetzt in die imaginären Räume einer „geheimen" Erzählung eingeladen werden, würde sich vielleicht zwar über die apokalyptische Ausmalung wundern, aber er käme kaum umhin zuzustimmen, würden die äußeren Fakten angeblich auf ein Zusammenspiel böser Mächte hindeuten.

Natürlich, die Details sind nur Eingeweihten bekannt, und die Informationen dürfen in Deutschland und der Schweiz nur unter dem Ladentisch weiter gereicht werden. auch ein entsprechender Download aus dem Internet, gefunden auf der Festplatte, ist ein veritabler Straftatbestand. Und wer jetzt an eine Verschwörung unter Einschluss der Bundesregierung glauben möchte, wird sich als Märtyrer und Pionier sehen, wenn er schließlich jene Bücher in der Hand hält, die ihn scheinbar aufwachen lassen und ihm erzählen, dass alles ganz anders ist, als es in den Medien dargestellt wird, aber doch so, wie er es immer geahnt hat. Der Komplott, das ist das Unerwartete, ist so groß und umfassend, dass natürlich alle Geschichte schlichtweg umgeschrieben werden müsste: Eine Erzählung, die von grünen Männchen geschrieben sein könnte.

Im Westen haben seit dem Zweiten Weltkrieg dank freier Presse unendlich viele Skandale die Glaubwürdigkeit offizieller Lesarten erschüttert, von Kennedy bis zu Rammstein. Für Ufologen erweitern das schwarze Loch offizieller Glaubwürdigkeit keineswegs gekenterte Ostseefähren, sondern schon immer geheime Gänge der Pyramiden und von Aliens abgeschossene Marssonden: Die Fremden waren schon immer unter uns, nicht erst seit dem Zweiten Weltkrieg, als fliegende Untertassen aufgetaucht waren und angeblich abgestürzte Ufobesatzungen in amerikanischen Armeedepots tiefgekühlt gelagert wurden. Nein, berichten nicht schon alte Schriften von den sagenhaften Flügen der Götter, und sind die wie aus dem Nichts auftauchenden Hochzivilisationen an den großen Flußläufen nicht unter tatkräftiger Mithilfe von Außerirdischen entstanden? Woher hätten sie sonst ihr erstaunliches astronomisches Wissen haben können, wenn nicht von denen, die von den Sternen kommen? Und nun, so die These, wie ginge es der Menschheit, hätte nicht ein klandestines Komplott das alte Wissen unterdrückt und die Menschen ihrer psychischen Fähigkeit beraubt, um sie dumm und unwissend zu halten?

Denn was da am Himmel geschieht, ist ein Kampf der Götter, der Aliens untereinander. Es gibt in der mittelalterlichen Mythologie die Lehre von der Unterscheidung der Geister, die jetzt, in neuem Gewand, von „brauner" Esoterik wiederaufgenommen wird: Es gibt gute Aliens und böse. Die Bösen, diejenigen, die den Monotheismus, den Kapitalismus und die Aufklärung geschaffen haben, sind mit den Freimaurern und Juden in Verbindung, während die Guten es mit den alten Imperien, vor allem mit dem der Sumerer, hatten. Und für den unbedarften und mental wenig belastbaren Leser, der nur mal rasch hineinschaut, entpuppt sich das alte Testament nicht fälschlicherweise als Fundgrube des Bösen, des rachsüchtigen Gottes, der die „guten" anderen Gottheiten ausradiert sehen will? Sozusagen ein mentaler Masterplan des Imperialismus? Und dass das Judentum und die real existierende Wirtschaft ein Produkt böser Aliens sei, das war unter anderem Namen schon in der Antike unter christlichen Sektierern gängiges Gedankengut – eine apokalyptische Panik, ausgelöst durch die Vision einer geplünderten Welt, die nur einer Macht unterworfen ist, wie der spätantike Mittelmeerraum des an seinem ungehemmten Kapitalismus zugrunde gehenden römischen Imperiums. Und jetzt werden in die dahinköchelnde Suppe nicht nur böse Aliens, die eine Neuauflage des Demiurgos sind, sondern auch jüdische Welteroberungspläne und Freimaurerlogen geworfen.

Und wer den Plot kennt, wird dann auch auf Homepages im Internet die Fortsetzungen finden, die wie Schüleraufsätze mit liebevollen Bildchen aus Landserheften angereichert sind: Denn wer hatte sich gegen das „Weltjudentum" gestemmt, wenn nicht die Nazis? Weswegen sie auch jetzt im Himmel sind, die Braunen, mit ihren UFOs. Wäre es Pop, an den niemand glaubt, es wäre in seiner Groteske ein Fall für Indiana Jones: Denn am Ende des Krieges hätten die Nazis nicht nur Schnorcheluboote, die getaucht die Antarktis erreichen konnten, gehabt, sondern auch erste UFOs flugfähig machen können. Vom Südpol aus nun planen sie die Welt zu retten... Deutschland droht hingegen der Untergang, denn der Eingeweihte weiß, dass selbst ein früherer konservativer Bundeskanzler in Wahrheit Cohen heißt und ein Jude ist, der die „deutsche
Nation" via Völkervermischung... Das ist sozusagen die Aldiesoterik für die Bewohner bereits verwüster Welten, weil unter der Oberfläche, an den Rändern und zunehmend in der Mitte die Gesellschaft zerfällt und das Leben entleert wird: Die kollektiven Erzählungen und Utopien, die, um es mit Marx zu sagen, ein linderndes Opium sein könnten, sind verschwunden.

In den USA sind die Bösen, wen überrascht es, die UNO und, von Fall zu Fall, die Bundesbehörden. Ein Softwarereservoir für Desperados, die als Einzelne diese Dateien in ihre Psyche laden. Natürlich wundert sich das FBI, warum denn die Täter so scheinbar ohne Netzwerk und ohne Gruppe aktiv wurden... Auch der Film „Das Meisterspiel" von Lutz Dammbeck, der unter anderem über die terroristische österreichische Neonaziszene berichtet, erwähnt explizit derartige Mythologien, aber findet keine Antwort, was denn eine spezifische Verknüpfung mit einer konkreten Umwelt angeht. Wahrscheinlich sind es, wie bei Scorseses „Taxi Driver", andere Ursachen, die dazu führen, dass solche Marginalisierten und „Loner", wie man in den USA sagen würde, sich irgendeine geistige Software herausgreifen, die im Untergrund kursiert und von ihrer strukturellen Tiefe her einem Videospiel gleicht.

Würde dieser Trash in einigen Hirnen nicht Ergebnisse hervorrufen, die BSE gleichen und gleichermaßen für Unschuldige tödlich sein können, man müsste diese Story als ein mentales Panorama der Jahrtausendwende beschreiben. Manga Comics als mentales Steuerungsinstrument, die scheinbar als Notanker geladen werden, weil nur noch in ihnen eine antikapitalistische Sichtweise fortzuleben scheint. Wie bei religiösen Sektierern und Fundamentalisten wird hier das „ganz Böse" benannt, mit dem sich der Rest der Gesellschaft scheinbar so wohlig arrangiert hat: Die Splitter der zerborstenen großen Erzählungen sind böse geworden.

GMZ

(Auch wenn es zu Lasten der journalistischen Glaubwürdigkeit geht: Namen der indizierten Schriften und einschlägige Begriffe sind im Text mit Absicht nicht genannt, damit keine Links für Suchmaschinen aufgezeigt werden.)

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