Ausgabe 01 - 2001berliner stadtzeitung
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Berliner Luft 1901

Schon 1877 ist es Cailletet in Paris und Pictet in Genf gleichzeitig und unabhängig voneinander gelungen, durch Anwendung großen Druckes und intensiver Kälte verschiedene Gase wie Stickstoff, Sauerstoff, Kohlenoxyd, Wasserstoff und Luft zu verflüssigen. Wesentlich verbessert wurden die Verflüssigungsmethoden durch die Polen Wroblewski und Olszewski in Krakau, denen es gelang, Stickstoff und Kohlenoxyd dauerhaft als statische Flüssigkeit zu erhalten.


Siedende Berliner Luft in einem auf Eis gestellten Teekessel.
Bild: Archiv Falko Hennig

Hier in Berlin hat Pictet in seinem großen, modern ausgestatteten Laboratorium erfolgreich weitergearbeitet. In London verwandelte Dewar 1893 erstmals Luft in einen klaren, durchsichtigen, festen Körper. Gleichzeitig erfand er Vakuumkugeln, doppelwandige Gefäße mit luftleeren Zwischenraum, in denen flüchtige Flüssigkeiten wie Sauerstoff, Luft usw. aufbewahrt werden können. Nach langen Versuchen gelang es Dewar 1898 auch, Wasserstoff und das neu entdeckte Gas Helium nicht nur zu verflüssigen, sondern bei einer Temperatur von minus 258 Grad Celsius in den festen Zustand zu überführen.

In Deutschland haben die erwähnten Forschungen besonders durch Professor Doktor Linde in München technische Verwendung gefunden. Linde hat schon früher die Kälteindustrie durch die Ammoniak-Kompressionsmaschine wesentlich gefördert. Bei Lindes Methode wird die erforderliche Kälte von mindestens 140 Grad Celsius auf dem sogenannten regenerativen Weg erzeugt. Die dem Kompressor entströmende hochgespannte Luft wird dabei durch plötzliche Expansion abgekühlt, dann wieder von dem Kompressor angesogen, aufs neue expandiert und dadurch weiter abgekühlt und so lange diesem Kreisprozess unterworfen, bis die kritische Temperatur erreicht ist.

In diesem Zustand beginnt die Verflüssigung der Luft, die in einem Sammelgefäß aufgefangen und mit einem Hahn abgezapft wird. Sie bildet eine schwachblaue Flüssigkeit, die durch die darin enthaltene feste Kohlensäure ein milchiges Aussehen hat. Filtert man sie, so tropft eine klare, zartblaue Flüssigkeit ab, die Kohlensäure bleibt als Schnee im Filter zurück.

Die neuen Maschinen von Professor Tripler (New York) können sogar flüssige Luft in beliebigen Mengen erzeugen. Hält man seine Hand einen Augenblick in die Flüssigkeit, so hat man die Empfindung, als sei sie von einem Kissen umgeben. Die Wärme der Hand bewirkt die Bildung einer Dunsthülle, die zum Glück die direkte Berührung mit der flüssigen Luft verhindert, sonst würden den Brandwunden ähnliche schwere Verletzungen entstehen.

Ein Ei gefriert in wenigen Sekunden so hart, dass ein kräftiger Hammerschlag nötig ist, um es zu zerbrechen. Wahrscheinlich wird auch der in ihm enthaltene Lebenskeim zerstört. Pflanzenkeime dagegen können sogar diese außerordentliche Kälte aushalten. Man hat Erbsen, Gerste und Hafer, sowie Gurken- und Kürbissamen 110 Stunden lang einer Kälte von 192 Grad Celsius ausgesetzt, und dann 50 Stunden lang auftauen lassen, ohne dass sie ihre Keimfähigkeit verloren.

Taucht man eine Glasröhre voll flüssiger Luft in Wasser, so gefriert dieses alsbald ringsum und bildet eine Eishülle, die man als Eisbecher verwenden kann. Füllt man einen solchen mit flüssigem Sauerstoff und hält einen an der Spitze rotglühenden Kohlenstift hinein, so verbrennt dieser unter außerordentlich starker Licht- und Wärmeerzeugung. Zwischen dem flüssigen Sauerstoff und der brennenden Kohle ist ein Temperaturunterschied von etwa 1830 Grad Celsius, und dennoch schmilzt der Eisbecher nicht.

In der Kälte der flüssigen Luft verändern sich viele Stoffe auffallend. Eisen und Stahl werden zerbrechlich wie Glas, während Gold, Silber, Platin, Kupfer und Aluminium ihre Biegsamkeit behalten. Blei wird hart und elastisch wie Stahl. Die Zugfestigkeit der Metalle nimmt beträchtlich zu, ein Draht, der sonst nur 15 Pfund trägt, vermag jetzt 27 zu tragen. Ein Gummiball wird zerbrechlich wie ein Ei, während Leder biegsam bleibt.
Elfenbein wird phosphoreszierend. Taucht man einen Billardball aus diesem Material in flüssige Luft und setzt ihn gleich darauf einer starken Lichtwirkung aus, so leuchtet er nachher in der Dunkelheit mehrere Sekunden lang sehr stark. Andere Körper dagegen, die im Licht der Röntgenstrahlen leuchten, verlieren diese Eigenschaft in der Temperatur der flüssigen Luft.

In der Heilkunde erhofft man sich viel von der Anwendung flüssiger Luft. Die verdampfende Luft vermag eine wohltätige kühlende Wirkung auszuüben, Säle in Krankenhäusern können bis zu jedem gewünschten Grad abgekühlt werden, was besonders in den Tropen von ungeheurer Bedeutung wäre. Hielte man die Luft in der Nähe von Gelbfieberkranken dauernd auf dem Gefrierpunkt, so wäre der Krankenwärter vor jeder Ansteckung geschützt, und die Genesung der Kranken erleichtert, da der Bacillus des gelben Fiebers eine so niedrige Temperatur nicht verträgt. Die ätzende Kälte der flüssigen Luft will man statt des Höllensteins zur Fortbeizung äußerlicher Krebsgeschwulste benutzen. Asthmatiker, vielleicht sogar Schwindsüchtige können in einer solchen künstlich erzeugten kalten und keimfreien Luft ohne Klimawechsel Erleichterung finden.

Zu all diesen, teils schon eingeführten, teils in Aussicht stehenden Neuerungen kommt noch die große treibende Kraft, die in dem gewaltigen Ausdehnungbestreben der verflüssigten Luft liegt. Findet sie künftig Nutzung zum Betrieb von Fahrzeugen, Werkzeugen und Geschossen und gelangt vielleicht auch noch in der Elektrotechnik als eines der besten elektrischen Isolationsmittel zur Anwendung, so kann man das eben begonnene Jahrhundert gut das „Jahrhundert der flüssigen Luft" nennen.

Falko Hennig

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