Ausgabe 01 - 2001berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Lazy Berlin Years?

Die Stadt aus anderer Perspektive

Ein Interview mit dem US-Amerikaner Mike Jones, der vor gut zwei Jahren als 24-Jähriger nach Berlin kam

Manche Berliner bedauern, dass ihre Stadt immer noch nicht mit anderen Metropolen der Welt gleich gezogen hat. Sie wären nirgendwo lieber als
in New York. Du dagegen hast es umgekehrt gemacht und bist im Oktober 1998 nach Berlin gekommen, nachdem Du vorher drei Jahre in New York „Modern Musical" und „Literature" studiert hast. Warum gerade nach Berlin?

Ich wollte in Europa leben und ich wollte Deutsch lernen. Ich dachte, ein Jahr würde reichen, jetzt bin ich zweieinhalb Jahre hier.

Hattest Du eine bestimmte Vorstellung von Berlin?

Ich glaube, es gibt in Amerika einen Mythos über Berlin. Ich hatte zumindest ein Bild davon im Kopf, wie es hier aussehen würde, als ich herkam: Alles sei sehr postindustriell mit sehr vielen alten, leerstehenden Fabriken und lauter Tanzclubs. Ich dachte, die gesamte Berliner Bevölkerung würde anders leben, nicht so am Mainstream orientiert. Alles sei sehr cool, sehr distanziert, mit Clubs und Techno ­ die ganze Stadt
habe ich mir komplett undergroundmäßig vorgestellt. Ungefähr das Bild, das
David Bowie verbreitet hat. Ich dachte, dass es in Berlin keine McDonalds und auch keine Ladenketten gäbe. Eine völlig romantische Vorstellung.

Wer verbreitet solche Vorstellungen?

Es sind hauptsächlich Gerüchte und Mundpropaganda. In den USA haben mir Leute, die zuvor in Berlin gewohnt haben, auch ihre ganz persönlichen Erfahrungen erzählt ­ und Storys in dieser Art habe ich mindestens fünfmal gehört: Sie wären vor ihren Problemen nach Berlin geflohen, weil die Stadt so anonym ist. Sie hätten irgendwie keine Richtung gehabt und nicht viel gemacht, aber stattdessen ziemlich viel nachgedacht. Sie hätten mit allem experimentiert, also Drogen genommen und sehr viel Alkohol getrunken.

Das gibt es doch auch in den USA.

Ja, aber ich dachte, in Berlin wäre es so in der ganzen Stadt, eben nicht wie in Amerika, wo hauptsächlich gearbeitet wird und weniger Freizeit existiert, was natürlich auch ein Klischee ist. Aber es gibt schon gravierende Unterschiede zwischen der deutschen und amerikanischen Arbeitskultur. Ausschlaggebend für meine Entscheidung nach Berlin zu gehen war aber ein amerikanischer Freund, der erzählte, in Berlin sei alles sehr positiv, alle Türen stünden dort offen für jeden, der in die Stadt kommen wollte. Es sei praktisch alles möglich. Außerdem fand ich es eine verlockende Idee, in die Hauptstadt zu gehen. Als ich dann schließlich in Berlin war, wusste ich allerdings nicht, wie ich hier überhaupt zurechtkommen sollte.

Kannst Du Dich noch an Deinen ersten Tag in Berlin erinnern?

Ich kam nach einer vierwöchigen Europareise schließlich mit dem Zug aus Budapest abends am Bahnhof Zoo an. Ich erinnere mich wirklich sehr genau, wie ich anschließend das erste Mal in der Choriner Straße in einen Hinterhof gegangen bin und dieses sehr düstere Treppenhaus gesehen habe. Genauso hatte ich es mir vorgestellt. Am nächsten Tag bin ich mit einer Freundin zu Fuß zum Alexanderplatz gegangen. Diesen riesigen Freiplatz fand ich äußerst beeindruckend. Alles war so groß, man konnte sich klein und anonym fühlen. In Städten wie New York oder anderswo in Amerika gibt es keinen Platz, der mitten in der Stadt liegt und so aussieht. Wir haben uns dann auf einer der Bänke am Alex gesetzt und uns vom gigantischen Fernsehturm überragen lassen.

Wegen dieser Erfahrung finde ich den Plan für den Umbau des Alex furchtbar, weil er genau das zerstören wird. Der Platz in seinem jetzigen Zustand hat etwas Eigenes: einen offenen Charakter. Alle können dort hinkommen, egal wie sie aussehen und was sie da treiben ­ ganz im Gegesatz zum Potsdamer Platz, wo der gesamte „Aufenthalt" geplant und strukturiert ist. Als ich in New York wohnte, dachte ich, ich würde diese Stadt ziemlich gut kennen, aber als ich dann am Alex war, bekam ich doch Zweifel, ob ich die Kultur und die Leute hier verstehen würde. Ich
war am Ziel angekommen, wusste aber überhaupt nicht, wie es weitergehen sollte.

Wie hast Du dann Dein Geld verdient?

Hauptsächlich habe ich Wirtschaftsenglisch an verschiedenen Sprachschulen unterrichtet. Darauf ist auch meine Arbeitserlaubnis ausgestellt. Nebenbei habe ich manchmal in Bars und Restaurants Klavier gespielt. Dafür gab es bei der Ausländerbehörde keinen Stempel, weil niemand in Berlin auf einen weiteren arbeitslosen Musiker gewartet hat. Mittlerweile unterrichte ich so viel, dass ich aufpassen muss, noch Zeit für andere Dinge zu finden.

Jetzt, wo es ganz gut läuft, gehst Du wieder weg aus Berlin. Warum?

Inzwischen habe ich auch meine Grenzen im Hinblick auf meine berufliche Entwicklung kennen gelernt. Ich könnte jetzt in Deutschland weiterstudieren, was aber mindestens noch mal zwei bis drei Jahre dauern würde. In den USA kann ich meinen „master" innerhalb von einem Jahr machen, und dann an Schulen unterrichten. Deswegen gehe ich im Sommer nach New York zurück.

Nimmst Du irgendwelche speziellen „Berlin-Erfahrungen" mit zurück?

Ich glaube, ich habe hier in Berlin wirklich gute Freundschaften geschlossen, auf die ich mich auch in Zukunft verlassen kann. Wenn man in Amerika von „Freunden" spricht, sind damit meist „Bekannte" gemeint.

Glaubst Du, dass Du auch etwas in Berlin zurücklässt?

Für viele war ich der erste „leibhaftige Amerikaner". Hoffentlich habe ich einen positiven Eindruck hinterlassen.

Interview: sas

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