Ausgabe 01 - 2001berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Schlecht geregelt

Berlin fehlt eine funktionierende Bearbeitungsstelle für die Zwangsarbeiterentschädigung

Nahe Kursk, der südwestrussischen Gebietshauptstadt, erlitt die deutsche Wehrmacht 1943 ihre entscheidende Niederlage nach Stalingrad. Dass die 56-jährige Journalistin Anna Kortschagina Anfang Dezember in Berlin war, hat damit indirekt zu tun. Bevor die Deutschen vertrieben wurden, haben sie
allein von hier 38000 Menschen zur Zwangsarbeit abtransportiert, erzählt sie. 5500 Überlebende gründeten 1994 eine örtliche Organisation ehemaliger Zwangsarbeiter und ihrer Angehörigen. Alte Menschen sind das und inzwischen schon 1000 weniger, sagt Anna Kortschagina. Als Vorsitzende wurde sie von ihren Mitgliedern nach Berlin
geschickt. Sie sollte sich kundig machen. Denn die Kunde vom deutschen Entschädigungsgesetz hat die Leute elektrisiert. Bis zu 15000 Mark für ehemalige Konzentrationslagerhäftlinge und 5000 Mark für jene, die in Fabriken oder städtischen Einrichtungen arbeiten mussten, sind in Osteuropa besonders für Rentner beträchtliche Summen. Dass jetzt so viel Geld kommen soll, finden die meisten nur gerecht, und dennoch erhöht es die latente Hochachtung für die Bundesrepublik, denn dort wird früheres Unrecht anerkannt, anders als in Russland.

Als endgültige Wiedergutmachung eben dieses Unrechts ist das deutsche Entschädigungsgesetz auch gedacht. Ob es jedoch mehr sein wird als ein preiswerter Loskauf, ist noch unentschieden, zumal die deutsche Wirtschaft, die sich so vor amerikanischen Sammelklagen schützen will, ihren Anteil von 5 Mrd. Mark in die „Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft" nach wie vor nicht bezahlt hat. Vieles scheint bislang schlecht geregelt, auf der Bundesebene ebenso wie in Berlin. Da gehen etwa Zwangsarbeiter aus der Landwirtschaft leer aus, sie hätten auf den Bauernhöfen so gut gelebt. Die Partnerorganisationen in den osteuropäischen Ländern, die dort alle Entschädigungsanträge sammeln und bearbeiten sollen, können an sie zwar trotzdem zahlen, aber das verringert die Beträge für die anderen Häftlinge. Pauschal erhalten auch jene nichts mehr, die für die Haft schon früher etwas erhielten. Und wenn unmittelbar Betroffene vor dem 16.2.1999 verstorben sind, verfällt die Zahlung an die Erben ­ das ist beinahe eine Bestrafung des frühen Todes.

Wegen dieser Ausschlussfrist ist auch noch ungewiss, ob solch endgültige Gerechtigkeit Anna Kortschagina zuteil wird. Dabei ist deren Geschichte auch unter den so genannten „Ostarbeitern" eine besondere. Im Leipziger Lager, wo ihre Eltern sich 1943 begegneten, hatte der Vater eine Widerstandsgruppe mit aufgebaut, die unter den Mitgefangenen die Frontnachrichten verbreitete und die Solidarität stärkte. Die Mutter, zunächst recht frei untergebracht, half mit Materialien aus der Stadt. Als das Netz aufflog, verschleppte die SS den Vater nach Ausschwitz und ermordete ihn. Die Mutter, inzwischen schwanger, wurde erst in eine Flugzeugfabrik und nach vergeblicher Flucht in ein Strafbatallion verlegt. Was die noch im Lager geborene Anna Kortschagina heute darüber weiß, erfuhr sie meist aus der DDR, wo man sich für die Widerstandsgeschichte interessierte. Zu Hause dagegen mussten sie und ihre Mutter immer wieder die Vaterschaft erklären. Den Verdacht der Kollaboration, der tausende Zwangsarbeiter in der Sowjetunion gleich wieder ins Arbeitslager brachte, wurden sie dennoch nicht los.

Auf ihrer Informationstour in Berlin hat Anna Kortschagina erfahren, dass kaum jemand bedacht hat, wie die Entschädigungsprozedur konkret ablaufen soll. Wie bekommen die Berechtigten die Anträge? Wo Hilfe? Wer übergibt auf welche Weise etwa das Geld an die osteuropäischen Dorfbewohner ohne Bankkonto? All das ist unklar. Dabei müssen schon Anfang April alle Anträge bei den Partnerorganisationen
vor Ort eingereicht sein. Die schicken sie dann per Liste an den Internationalen Suchdienst Bad Arolsen, der die Zwangsarbeitszeiten aus seinen Personenarchiven der Nazizeit belegen und bestätigen soll. Bisher dauerten Anfragen in Arolsen freilich oft vier Jahre, und weil faschistische Unterlagen vielfach vernichtet wurden oder verlorengingen, waren sie nur zu 40 Prozent erfolgreich. Mehr Personal soll jetzt die Bearbeitungszeit wenigstens für Anträge der Partnerorganisationen auf zwei Monate verkürzen. Wer jedoch seinen Antrag selbst nach Arolsen sendet, gerät in die lange Warteschleife und verliert jede Chance auf baldige Entschädigung.

Gleichzeitig häuft sich an den verschiedensten Stellen in Berlin und Umgebung, bei Senatsabteilungen, Firmen, Archiven, Hilfsorganisationen und Gedenkstätten die Post von Zwangsarbeitern, die um Hilfe bei der Antragsstellung und die Bestätigung von Arbeitszeiten und Einsatzorten bitten. So suchte etwa die Projektgruppe „Speziallager Sachsenhausen" sowjetische Überlebende des Nachkriegslagers Oranienburg. Statt von ihnen aber kam immer mehr Post von Angehörigen, die ab 1941 nach Deutschland verschleppt wurden. Zunächst hat Evelyn Scheer, eine der Mitarbeiterinnen, den Beistand nebenbei erledigt, Anfragen an Stadtverwaltungen übermittelt, Informationen gesammelt, Nachfragen und Vertröstungen an die Betroffenen geschickt. Aber selbst nach mehrmaligem Hin und Her sind Anworten wie die
aus Mönchengladbach selten: „... geht hervor, dass Frau Hanna Schulga am 13.1.1943 von Pereslawl zugezogen und in der Textilfabrik Vierhaus & Zeime gearbeitet hat. Danach verzog sie nach Hochneukirch, dort wohnte der von ihr genannte Bauer Wilhelm Mühlen". Vor allem jedoch ist der Aufwand nebenher nicht mehr zu bewältigen, immer öfter müssen die Hilfsersuchen aus Osteuropa auf taube Ohren stoßen. Die große Versöhnungsgeste läuft Gefahr, nur neue Enttäuschung zu bewirken.

Dies auch, weil alle Antragsteller, die in Arolsen erfolglos blieben, früher ihre Zwangsarbeit bereits mit den Heimkehrerlisten des sowjetischen KGB nachweisen durften. Nach dem neuen Entschädigungsgesetz dagegen müssen sie alle Einsatzorte und -zeiten selbst belegen oder „glaubhaft machen", das heißt nach 55 Jahren die Namen von Familien, Firmen, Orten, Straßen, Mithäftlingen wissen und Anfragen danach einleiten ­ eine aus der osteuropäischen Provinz heraus, zumal für alte Leute, fast unerfüllbare Anforderung. Das gilt erst recht in Berlin, das als einstige Reichshauptstadt laut „Berliner Zeitung" rund 507000 Zwangsarbeiter beschäftigte. Zwar befand sich in Wilhelmshagen ein zentrales Verteillager, wo die Häftlinge bereits zum dritten Mal nach dem Abtransport und der Grenzpassage bis hin zu den Fingerabdrücken registriert wurden. Doch die meisten Unterlagen, sowohl von Polizei und Gestapo als auch von Arbeitsämtern und Krankenversicherungen, gelten als verschollen. Für die Zwangsarbeiter ist das ein Fluch, für einzelne vor Ort möglicherweise auch: die Chance zum Missbrauch. Zufallsfunde wie im Sommer die Metallplatten der Tempelhofer Elektrofirma Lorenz/Alcatel mit allen Zwangsarbeiternamen des Betriebes sind eine glückliche Ausnahme.

Hinzu kommt, dass durch Verschulden des Senats seit Januar das Landesarchiv geschlossen ist, dessen Firmennachlässe manche Nachweis noch erbringen könnten. Die Akten liegen praktisch unzugänglich in Zwischenlagern am Westhafen, weil das neue Gebäude in Reinickendorf noch nicht fertig, der Mietvertrag in der Kalckreuthstraße aber schon gekündigt ist. Anträge ohne glaubwürdige Belege jedoch werden nicht anerkannt. „Im Landesarchiv gibt es nur zehn relevante Bestände mit Namen", beschwichtigt dagegen die mit dem Zwangsarbeiterthema befasste Senatsmitarbeiterin Frau Rybczyk, und „selbstverständlich werden alle Anfragen beantwortet". Was Berlin dennoch bislang fehlt, ist eine zentrale Anlaufstelle, die sich der Nachweise und amtlichen Bestätigungen für die Zwangsarbeiter kompetent annimmt, obwohl
die „Berliner Geschichtswerkstatt", die seit Jahren zu dem Thema forscht, sie schon im August forderte. Inzwischen wies die Bundesregierung an, diese Bearbeitungsstelle in jedem Land beim Landesarchiv zu schaffen. Weil das in Berlin aber zu und „als Archiv mit seinen Aufgaben ohnehin ungeeignet ist", so Frau Rybczyk, schob der Senat die Aufgabe am 16. Januar der Innenverwaltung zu. Nur fehlen hier, so glaubt man in der Geschichtswerkstatt, auch weiterhin Personal und Sachwissen.

So bleibt vieles bei den Initiativen Einzelner hängen. Die Brandenburgischen Gedenkstätten Oranienburg planen eine eigene Bearbeitungsstelle. Der Verein „Deutsch-Russischer Austausch" (DRA) in der Brunnenstraße 181 versucht, eine befristete Gruppe zur Recherchehilfe mit etwa 15 Jugendlichen aus Osteuropa einzurichten. Projekte mit Osteuropäern werden von Förderprogrammen bevorzugt. Die Geschichtswerkstatt veranstaltet am 26.Januar ein Symposium zur Zwangsarbeit in Berlin.

Doch all das kann dem Hilfebedarf bei der Entschädigung höchstens symbolisch gerecht werden. Wenn Anna Kortschagina mit dem Gefühl heimkehrt, es kümmere sich jemand um die Belange der Mitglieder ihrer Kursker Organisation, ist das nur teilweise richtig. Ohne ernsthaften Antrieb des Senats bleibt alles halbseiden. Und bevor Menschen wie Anna Kortschagina ihre Sache erneut selbst in die Hand nehmen können, dürfte es zu spät sein.

Stefan Melle

Buchtip: Zwangsarbeit in Berlin 1940-1945 (Erinnerungsberichte). Hrsg.: Geschichtswerkstatt Berlin, Sutton-Verlag. 24,80 DM.

Infos zum Symposium: fon 2154450

Infos zur Zwangsarbeiterentschädigung: www.barov.bund.de oder www.berliner-geschichtswerkstatt.de

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