Ausgabe 10 - 2000berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Musik für die Massen

Ganz oder gar nicht

Es gibt Dinge im Leben, die lassen nur zwei Haltungen zu: Entweder Feuer und Flamme oder rigorose Ablehnung. Intensives Einlassen oder gähnende Langeweile. Hier kommt Musik, die spaltet:

Intensiv-Werden im musikalischen Sinn fordert die isländische Band Sigur Rós ein. Entweder zieht man die Scheibe sofort wieder aus dem CD-Player oder man wird aufgesogen. „Love it or leave it" - eine Einstellung, wie sie beispielsweise melodramatische Filme hervorzurufen vermögen. Mit Ágaetis Byrjun (Fat Cat/Connected) haben Sigur Rós eine Art melodramatischen Soundtrack vor den Kulissen der isländischen Landschaft vertont. Überläßt man sich der musikalischen Entschleunigung und den androgynen Stimmwolken, nimmt die Metamorphose ihren Lauf und das Verschmelzen mit der Musik ist nicht mehr aufzuhalten. Die Intensität zieht einen Wechsel des Elementarzustands nach sich. Aus Fest wird Flüssig. Aus profaner Popmusik wird sakrale Weihe. Aus Kitsch wird Transzendenz. Und das alles auf isländisch mit Streichern und Piano. Elfen und Trollen sei Dank, gibt aber auch Momente, in denen die ganze Harmonie an den Enden auseinanderläuft und sich in den weiten der Felslandschaft in Wohlgefallen auflöst.

Auch Komëit (Monika Enterprises/Indigo) scheinen sich in irgendeiner Weite zu verlieren: Dezentes Gitarrenanschlagen, hintergründiges Orgelspiel, sanft monotoner Drumcomputer und über alles legt sich immer wieder nebulöser Feinstgesang. Melancholie will um sich greifen und lädt zur Selbstversunkenheit ein. Wer sich aber auf die Strukturen einlässt, erlebt eine angenehme Überraschung: die Songs fallen durch die melancholischen Raster und türmen sich in kristalliner Klarheit auf. So kommt es, dass die beiden Berliner Chris Flor und Julia Kliemann ihre Musik widerspruchsfrei Zart-Core nennen. Alles wirkt zerbrechlich und introvertiert, erweist sich aber beim genauen Hinhören als nach vorne gewandt, was so ziemlich das Gegenteil von Melancholie ist. Um nicht falsch verstanden zu werden: Komeit funktionieren auch hervorragend als Hintergrundbeleuchtung für herbstliche Betrachtungen und setzen dabei durchaus mehr als nur homöopathische Dosen an Melancholie frei.

Mit einer ähnlichen Intensivierung von Songstrukturen beschäftigen sich seit Jahren Trans Am. Musikalische Vorläufer sind bei Can und Kraftwerk zu finden, und so kommt es, dass die drei Musiker aus Washington auf Red Line (Thrill Jockey/NTT) zum erstem Mal Gesang in ihre Postrockschleifen mischen. Und als wäre die Verbindungen zum Krautrock noch nicht deutlich genug, intonieren sie in ihrem Eröffnungssong, wie in einer Sesamstraßensondersendung zum Thema Zählen, auf deutsch die Zahlenkette von eins bis vier, bis es auch der letzte Teletubby verstanden hat. . Psychodelischer Wiederholungszwang mit Haßliebe-Qualität. Tatsächlich ist es mit den Songwriterqualitäten von Trans Am nicht weit her. Spaß macht es allerdings, wenn sie die Stimme durch den Voice Vocoder jagen und sie sampeln, bis alles zu Hochgebirgen übereinander gestapelt ist und aus den einzelnen Elementen neue Strukturen herausbrechen. In den besten Momenten schwindet dann auf Red Line jegliche zeitliche Zuordnung. Zehn Minuten musikalische Intensität reichen aus, um ein ganzes Universum neu zu fusionieren.

Marcus Peter

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  Ausgabe 10 - 2000