Ausgabe 10 - 2000berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Russen in Berlin

Wladimir Kaminers Text-Sammlung Russendisko

Die vielfältigen Umtriebe des 1967 in Moskau geborenen, seit 1990 in Berlin ansässigen Wladimir Kaminer ernteten in jüngster Zeit verstärkte Aufmerksamkeit vom Rolling Stone bis zur FAZ, und auch dem scheinschlag waren sie in der letzten Ausgabe einen langen Bericht wert. Das hat einiges mit den Mythen von der Prenzlauer-Berg-Szene zu tun, einiges mit den Legenden vom russischen Berlin der zwanziger Jahre, viel mit Kaminers Geschick zur Selbstvermarktung.

Sein unlängst erschienenes erstes Buch, die Russendisko, versammelt etwa 50 Prosatexte, selten länger als drei, vier Seiten. Im Vordergrund dieser Stücke, die nicht aufeinander aufbauen, aber oft miteinander zusammenhängen und aufeinander verweisen, stehen, der Titel deutet es an, Russen, im Hintergrund Berlin. Die Leser und Leserinnen erfahren, wie Kaminer dank seiner jüdischen Abstammung „aus Neugier" nach Deutschland kommen konnte, wie er im Marzahner Wohnheim lebte, bis er eine von einem Republikflüchtling geräumte Wohnung im Prenzlauer Berg besetzte, womit er sich beschäftigt, und manches über seine Familie. Sie lesen über das Leben der Berliner russischen Gemeinde (um die 100000 Russen halten sich hier auf), über die seltsamen Tätigkeiten, denen sich diese Leute widmen.

Es sind Beobachtungen, die Kaminer wiedergibt; der FAZ war zu entnehmen, dass er damit in wirren Worten eine „Neue Proletarische Kunst" propagieren will. Das ist Quatsch, im Gegensatz zu dem, was er in Russendisko wirklich gemacht hat. In angenehm einfachem, lakonischem Stil - der Autor schreibt ja in einer Fremdsprache, nicht immer frei von abgenutzten oder nicht ganz passenden Formulierungen -, werden skurrile Begebenheiten aus dem Alltag einer kulturellen Minderheit geschildert, von der man sonst nicht viel erfährt.

Glücklicherweise wurde das keine sozialkritische Prosa, Sozialhilfe und Abschiebung kommen nur am Rande vor, Ghetto-Bildung gar nicht. Einer anderen Gefahr entgeht Kaminer nicht immer: manche seiner Beschreibungen sind einem Willen zur Skurrilität geschuldet, die Genauigkeit der Beobachtung wird verzerrt durch die Brille der Bizzarerie, die Schilderung wird derart auf's Absonderliche zugespitzt, dass sie überspitzt wirkt und man nicht über die ‚verrückten Russen' - ein Klischee, das Kaminers Prosa wenn nicht bedient, so zumindest bestätigt - den Kopf schüttelt, sondern über die verstiegene Stilisierung des Autors.

Doch nur ein paar der Texte sind auf diese Art danebengegangen, der Rest zeigt eine wohltuend gelassene und zugleich detaillierte Wahrnehmung, für die das Groteske schon lange Alltag ist, und erschließt in einer angemessenen, kargen literarischen Form weitgehend unbekannte Inseln im multikulturellen Berlin. Thomas Keith

Wladimir Kaminer: Russendisko. Wilhelm Goldmann Verlag (Manhattan), München 2000. DM 34.

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  Ausgabe 10 - 2000