Ausgabe 10 - 2000berliner stadtzeitung
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Einer heult immer

Nachwuchs im Nachsitz-Genre: Das Theaterstück „Michi" im Tacheles pflegt die Tradition der bunten Selbstfindungsgruppe

Boris Becker stehe uns bei! Da sind sie nun „drin", diese vier Menschen, doch es passt ihnen nicht, nein, sie wollen wieder raus. Dabei dürfen sich die zwei Damen und zwei Herren auf einer Party tummeln, einer mächtig angesagten bestimmt, in einem Appartement, vielleicht gar einem Loft, selbstredend in einer hippen Stadt, womöglich sogar in Berlin. Doch die Tür ist verschlossen, der Gastgeber verschollen, vielleicht hat jemand den Schlüssel verschluckt, wer weiß. Sie würden alle lieber „off-
line" gehen, heim ins Bett, aber der Verhaltensforscher - am Theater: Dra-
matiker - Dietrich Oberstädt baut sein ganzes Stück auf dieser Käfigsituation auf. So müssen sie also nachsitzen bis zum Schlussapplaus, der souveräne Intellektuelle Franz ebenso wie Luzie, die Blondine mit Feldbusch-Appeal, die miesepetrige Petra mit der Betonfrisur à la Sigrid Löffler genauso wie Uwe, der das Softispektrum irgendwo zwischen Tom Petty und Woody Allen bedient. Solch eine Truppe kann natürlich nur einen Auftrag haben, nämlich: nach dem Sinn des Lebens zu forschen.

Das gelingt dieser Selbsterkenntnis-Task-Force fast ebenso gut wie einst dem Klassiker des Nachsitz-Genres. Der High-School-Film „Breakfastclub" führte in den 80er Jahren verwirrtes Bravo-Klientel leidlich amüsant an das wahrhaft Menschliche hinter den Rollenklischees heran - damals mussten fünf Pennäler, richtig, in der Schule nachsitzen. Subtile Abneigung, offene Konfrontation, dann Öffnung der Seele, schließlich die Paarung - das Theaterstück „Michi" entwickelt dieselbe Dramaturgie wie der US-Streifen. Die berechtigte Frage, warum diese Menschen nun miteinander ins Existenzielle strudeln und nicht gelangweilt abhängen, hat die „Michi"-Regisseurin Katrin Hentschel clever überbrückt: Mit der Auswahl exzellenter Schauspieler.

Allen voran natürlich Ulli von Lenski, die überdrehte Luzie, die vieles „super" findet und wenig versteht und zwischendurch mit herrlich naivem Tonfall Chansons zum besten gibt. Sie liefert den Einstieg, indem sie bekennt, ein „Problem" zu haben - für das sich prompt die beiden Männer begeistern. Genauer gesagt: Für das Wesen, den Nutzen, das Für und Wieder von Problemen als solchen. Wo Luzie nun der Schuh drückt, kommt auch nach längerer Debatte nicht heraus, ist auch nicht wichtig, denn bald folgt Phase 2: Konfrontation. Unvermittelt sinniert Luzie darüber, wie das wäre, wenn Petra (Yvonne Hornack) ein Messer im Bauch hätte - jene Petra, die bisher zugeknöpft vor allem den Riemen ihrer Handtasche umklammert hielt, als würde sie ihr Leben lang auf den Bus warten. Bestellt und nicht abgeholt, dann abgestochen: Die beiden spielen die Mordszene, Petra steht aber wieder auf. Ähnlich hypothetisch, eben nur gestellt, verrichtet später Franz (Matthias Horn) seinen Selbstmord, nachdem er von Petra - nunmehr in der Rolle der Großinquisitorin - der Stasimitgliedschaft überführt wurde. Die Schuldigen sind symbolisch gerichtet, versöhnliche Stimmung kehrt ein. Sanft diskutieren die vier Schicksalsgenossen ihre Träume und was sie eigentlich von der Zukunft erwarten. Uwe (Stephan Boden), der Hippie und Kommunistenhasser, erwartet besonders energisch: Komfort. Komfort! Das liegt so exakt neben dem Gleis - schade, dass niemand im Publikum lacht. Denn mittlerweile müsste klar sein: Es geht nicht um Wahrhaftigkeit, sondern um die Parodie derselben. Nicht um die Denunziation der Träume natürlich, sondern um ihre heitere Karikatur.

Etwas holzschnittartig kommt das System „Michi" allerdings schon daher: Meist liegen zwei miteinander im Intensivzwist, während die zwei anderen eher passiv in einer Ecke herumlungern. Von den letzteren heult immer mindestens einer. Kennen wir. Auch bei „Breakfastclub" flennen sie im Rotationsprinzip, denn Regisseure wissen: Tränen brechen Barrieren. Freie Bahn für die Liebe - Phase 4. Irgendwie rührend ist dabei nicht, dass sich die „Richtigen" finden, sondern dass sie dabei richtigen Stuss verzapfen: „Ich freue mich, ich freue mich", jauchzt Luzie beim In-Fight mit Franz. Ist das nun das unverfälscht Menschliche hinter den Rollenmasken oder einfach ein formidables Brett vorm Kopf? Vielleicht beides. Später singt Luzie „Ein Herz voll Sonnenschein" und alle vier tanzen. Den Tanz des Lebens.

Klemens Vogel

„Michi" von Dietrich Oberstädt, Hamletbüro Zwei im Tacheles,Oranienburger Str. 53-56, 19. bis 22. Oktober,

21 Uhr, fon 280 47 66

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