Ausgabe 10 - 2000berliner stadtzeitung
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Geschmackssache

„Lust auf anderes" von Agnès Jaoui webt am Netz der feinen Unterschiede

Leben wir aufgeklärten Europäer in einem System von Kasten? Schließlich neigen wir alle zur Grüppchenbildung und bleiben am liebsten unter unseresgleichen. Doch der programmatische Originaltitel von Agnès Jaouis Regiedebüt verspricht Abhilfe: "Le goût des autres" beinhaltet Abgrenzung ("Der Geschmack der anderen") und Annährerung ("Auf den Geschmack der anderen kommen") gleichermaßen und stellt das Durchbrechen verselbständigter Gruppenstrukturen in Aussicht.

Beispielhaft für die doppelte Ebene im Film ist der Wandel seines Helden Castella (Jean-Pierre Bacri). Dieser Prototyp des neureichen Unternehmers droht seinem selbstauferlegten Stress zum Opfer zu fallen. Wichtige Termine verpasst er, und sein Imageberater nervt ihn ebenso wie seine gelangweilte Tiernärrin von Ehefrau. Eines Abends besucht Castella widerwillig eine Theateraufführung von Racines "Bérénice", deren Pathos er spontan mit "Mist, das ist ja in Versen!" kommentiert. Doch dann geschieht das Wunder: Am Ende des Stücks ist unser Kulturmuffel in Tränen aufgelöst. Der Hauptdarstellerin Clara (Anne Alvaro) folgt er beeindruckt in die Loge und lädt sie und ihre Künstlerfreunde in ihre Stammkneipe ein. Zum Dank wird der Ahnunglose mit Geschichten über die Komik eines Ibsen zum Narren gehalten.

Langsam entstehen Berufs- und Liebesverbindungen zwischen Figuren unterschiedlicher Milieus: Der Unternehmer verschafft den Künstlern Aufträge, Clara gibt ihm Englischunterricht. Castellas Leibwächter Frank (Gérard Lanvin) und sein Chauffeur Bruno (Alain Chabat) verlieben sich beide in Manie (Agnès Jaoui), die pfiffige Kellnerin. Der vernarrte Castella selbst dichtet für Clara rührende englische Liebesgedichte, opfert gar seinen Schnauzer für sie. Die Intrigen verlaufen parallel, kreuzen sich und werden mit viel Sinn für Detail und Humor in Szene gesetzt. Alle bekommen ihr Fett weg, wegen ihrer Dünkel oder Komplexe, ihrer Apathie oder Naivität. Konflikte und Missverständnisse bleiben nicht aus: Castella etwa versichert einem schwulen Künstlerpärchen bei dessen Vernissage tröstend, dass die fehlenden Journalisten ein "Haufen von Schwuchteln" seien. Der konservative Ex-Polizist Frank sucht die Haschgeschäfte Manies zu unterbinden und Clara ignoriert Castellas Liebesbeweise. Den Tenor des Films bestimmt ein optimistischer Fatalismus, frei nach der Piafschen Schlussmusik "Je ne regrette rien." Die Regie ist flüssig und effektiv, die Geschichte wohltuend gewalt- und leichenfrei. Der Film bereitet viel Vergnügen, eckt aber nirgends an. Die Botschaft dieses erneut vom Tandem Bacri-Jaoui geschriebenen Skripts ist zu konsenzfähig. Linke und Rechte, Großunternehmer und Sozialhilfeempfänger können sich nach dem Film beruhigt auf die Schulter klopfen und wieder getrennter Wege gehen. Sehenswert ist der französische Publikumsrenner jedoch allemal, nicht zuletzt wegen seiner exzellenten Darsteller.
Kira Taszman

Lust auf anderes, F 2000. Regie: Agnès Jaoui. Mit: Jean-Pierre Bacri, Gérard Lanvin, Anne Alvaro, Alain Chabat, Agnès Jaoui u.a.

Kinostart: 9. November 2000

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