Ausgabe 10 - 2000berliner stadtzeitung
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Wertsachen von Hand

Die Ausstellung „Samizdat" in der Berliner Akademie der Künste zeigt eine sich verlierende Kulturschicht Osteuropas

In der kleinen Wohnung des Publizisten und Schriftstellers Boris Ivanov auf der Petersburger Vasiljev-Insel ist die Last eines der vielen Bücherregale besonders gewichtig. Da stapeln sich mehrere Dutzend Nummern des Journales „Die Uhr", rote, blaue, grüne und braune Bände von solidem Umfang. Seit Mitte der 70er Jahre hatte Ivanov sie mit seinem Freund Boris Ostankin in Leningrad herausgegeben. Ein unbeschnittenes kulturelles Bild der sowjetischen Gesellschaft wollte das Journal bieten, regelmäßig und pünktlich wie ein Zeitmesser. Eine Angelegenheit mit Hindernissen. Denn die die hier veröffentlichten literarischen und essayistischen Werke holten tabuisierte Themen wie die politische Verfolgung, die ästhetische Beschränkung, die Geschichtsverzerrung, Nationalitätenfragen und auch die Kirchenentwicklung zurück in die sowjetische Debatte. Hier mitzuarbeiten, war riskant, eine richtige Druckerei bekam das Journal deshalb nie zu Gesicht. Sämtliche Ausgaben hat Ivanovs Lebensgefährtin Vika im Anschluss an ihre Schichtarbeit in einem Fabrikheizhaus von Hand auf der Schreibmaschine getippt. So entstanden ein Original sowie vier, höchstens fünf Durchschläge auf einmal. Auf diese Weise erschienen, illegal und vom KGB misstrauisch beforscht, manchmal bloß ein gutes Dutzend Exemplare einer Ausgabe, die als Wertsache unter Freunden und Gleichgesinnten verteilt wurden.

Im Untergrund

Im Journal „37", geführt vom Schriftsteller Viktor Krivulin, hatte Ivanovs „Uhr" einen einflussreichen Kollegen, aber nicht den einzigen. Beide waren Teil eines ganzen Netzes von Untergrund-Literatur in der Sowjetunion, das unter dem Namen „Samizdat" (Selbstverlag) zum Zeichen einer ganzen Kulturepoche wurde. In den 50er Jahren war diese Bewegung aufgeblüht, als mit der „Tauwetter-Periode" unter Chrustschov das Reden über die Verbrechen und Grenzen des stalinschen Sozialismus möglich wurde.

Dass Boris Ivanov heute Kongresse organisiert und an einem Erinnerungsband arbeitet, mit denen er die Geschichte des Leningrader „Samizdat" und auch seines Journals festhalten möchte, dürfte symptomatisch sein. Denn mit dem politischen Umbruch vor zehn Jahren entfiel jene Grundbedingung, die den Samizdat und seine Brisanz erzeugte: die konsequent betriebene Sperrung für kulturelle und politische Regungen, die nicht wenigstens entfernt in die aktuelle Politik des Staates einzuordnen waren.

Im Samizdat vereint

Indes war das Phänomen „Samizdat" keineswegs auf die Sowjetunion beschränkt. Nur folgerichtig stellt die umfangreiche Ausstellung, die zur Zeit in der Berliner Akademie der Künste diesem Samizdat gewidmet ist, alle diese Länder nebeneinander. Noch einmal sind hier Ungarn, Polen, die Tschechoslowakei, die Sowjetunion und schließlich die DDR als integriertes Gebiet vereint. Länder wie Bulgarien oder Rumänien tauchen dagegen nicht auf. Es bleibt offen, ob dort Vergleichbares nicht zustande kam oder lediglich die Kontakte der Sammler nicht ausreichten, Zeugnisse des geschriebenen, gemalten, inszenierten oder gesungenen Ungehorsams dieser Länder zu erhalten.

Für diesen Ungehorsam im sozialistischen Osteuropa scheint der Kanon der Geschichtsschreibung bereits festgeklopft. Er ähnelt einer simplifizierenden chronologischen Linie. Dafür stehen die Aufstände 1953 in der DDR, 1956 in Ungarn, ab 1961 die Maueropfer, 1968 der unterdrückte tschechische „Sozialismus mit menschlichem Antlitz", dazu noch die Charta 77 (wieder in Prag), die Ausbürgerung Biermanns, der Auftrieb der Gewerkschaft „Solidarnosc" in Polen, die Perestrojka und zuletzt der Mauerfall. Wichtige Unterschiede in den einzelnen Ländern werden jedoch verwischt dargestellt. So ist zum Beispiel unbekannt, dass in Ungarn und der Tschechoslowakei schon Jahre vor der Wende tatkräftige Kleinverlage arbeiteten-anders als etwa in der DDR und der Sowjetunion.

Wege zum Leser

Rege war der Samizdat zwar überall. Die Tschechen begegneten über ihn Schrifstellern wie Milan Kundera, Bohumil Hrabal und auch Vaclav Havel. In der DDR las ein kleines Auditorium auf diesem Wege Reiner Kunze oder Jürgen Fuchs. Ungleich stärker aber prägte der Samizdat die Lesekultur in der Sowjetunion. In ihm fanden sich gezwungenermaßen auch viele Autoren wieder, die heute als die Wichtigsten dieser Epoche gelten; Michail Bulgakov, Anna Achmatova, Osip Mandelstam oder Andrej Platonov. Oft bekam ein Interessierter ein längst zerlesenes Maschinenskript nur für einen Tag in die Hand, dann musste er es weitergeben. Millionen Menschen haben die versagte Literatur so kennengelernt.

Später als alle anderen kam die schmale DDR-Opposition mit ihrer sich unterm Kirchendach bergenden Öko- und Schwerter zu Pflugscharen-Bewegung, mit ihren kleinen Literaturzirkeln in den Universitätsstädten oder im Prenzlauer Berg zu Kräften. Bis heute wird das ungern wahrgenommen. Vermutlich hat hier die stete Ausreisewelle der Unbefriedbarsten nach Westen ihre Wirkung getan.

Bücher auf Stelzen

Wer über all dies etwas erfahren will, muss auch in der Berliner Austellung vor allem lesen. Deren Gestalter haben ihre Exponate in unregelmäßig ovalen Vitrinen auf dünnen Stelzen verteilt., gleiche, aber unzusammenhängende Eilande entstehen. Angedeutet wird damit die Vereinzelung jeder dieser Initiativen im Untergrund und ihr Wissen, jedes Problem - sei es die Gefahr der Verhaftung oder lediglich der Mangel an Druckmaterial - selbst lösen zu müssen. Die Inseln zeichnen zudem aber auch jenen „Archipel" nach, den Alexander Solshenizin in seiner berühmten GULAG-Dokumentation beschrieb. Sol-shenizins Buch - vor allem in der Sowjetunion eine „Bibel" der inoffiziellen Kultur - ist ein gutes Beispiel dafür, wie in der Samizdatkultur das Künstlerische und Politische sich ständig überlagern. Im Status des Verbotenen konnte kein Werk unpolitisch sein, selbst nicht das Prinzip „l`art pour l`art". Ohnehin trugen viele der Samizdat-Produktionen Manifestcharakter.

Tamidzat

Unter diesen Bedingungen entstand immer wieder Weltliteratur. Zu Ruhm gelangte aber nicht selten auch Zweitrangiges. Denn der Wert der im Samizdat veröffentlichten Werke, darin herrschte damals weithin Konsens, bestand zunächst bereits in ihrer Existenz an sich. Darum entwickelte auch der Westen für die Samizdatkultur große Zuneigung, zu seiner Publizität hat er viel beigetragen. Manche Werke erschienen überhaupt nur im Ausland, sie gingen als „Tamidzat" („Dortverlag") in die Annalen ein. Exilverlage wie der Frankfurter Posev-Verlag, die Pariser YMCA-Press oder Sammlungen wie die der Forschungsstelle Osteuropa Bremen, die in Jahrzehnten eines der größten Archive zum Thema zusammentrug und auch die Berliner Ausstellung organisierte, erwarben sich dabei historische Verdienste. Nicht zuletzt wurden etliche Repräsentanten des Samizdat mit Nobelpreisen gestützt. Die Russen Pasternak, Solshenizin und Brodskij, der Tscheche Jaroslav Seifert und der Pole Czeslaw Mirosz wurden Laureaten für Literatur. Andrej Sacharov und Lech Walesa erhielten den Friedensnobelpreis. Selbst hätte der Westen diese Kultur der Opposition niemals erzeugen können. Dazu bedurfte es des Stehvermögens vor Ort.

Gesicht zeigen

Kaum zufällig blicken daher aus vielen der geheimen Bücher unverhüllt die Fotografie des Autors oder seine Unterschrift - es ging darum, Gesicht zu zeigen. Gab es erst den Mut, fanden sich auch Wege, um die eigenen Überzeugungen zu verbreiten, sei es mittels selbstgebastelter Druckmaschinen, nur durch Holzrahmen und Leinentuch oder auf der DDR-Schreibmaschine „Erika", der der sowjetische Liedermacher Alexander Galitsch sogar ein Lied widmete.

Die langen Jahre gleichzeitigen Hervortretens und Verbergens haben auch die Oppositionellen verändert. Oft standen sie ihren Geheimdienstverfolgern an Geschicklichkeit bei der Konspiration kaum noch nach. Wie jene organisierten sie blinde Adressen und geheime Treffen, tote Briefkästen und versteckte Aufzeichnungen. Dass manchmal einer der Aktiven, wie etwa Sascha Anderson in der DDR, auch mal auf die andere Seite trat, beschäftigte die Aussteller nicht. Auch nicht, dass etlichen der Status des Dissidenten schließlich zur lieben, Anteilnahme sichernden Gewohnheit wurde, von der zu lassen schwerfiel, als die Umgebung sich veränderte, wurde ebenfalls nicht reflektiert. An den Schwierigkeiten vieler Bürgerbewegungen in Osteuropa, sich nach 1990 konstruktiv zu positionieren, ist das ablesbar. Schon 1979 veröffentlichte der tschechische Schriftsteller Ludvig Vaculik im Samizdat ein ganzes Buch „Tschechische Träume", das die Rolle des Oppositionellen selbst reflektiert.

Was bleibt?

Der Publizist Boris Ivanov in Petersburg hat das Problem der Fortsetzung für sich gelöst. Er schreibt nicht nur Memoiren. Einmal jährlich verleihen er und seine ehemaligen Mitstreiter wie früher den „Andrej Belyj-Preis" an unentdeckte Autoren, die literarische, ästhetische Grenzen oder gesellschaftliche Tabus brechen könnten. In der Berliner Ausstellung ist Ivanov nicht erwähnt, dagegen das Journal „37" seines einstigen Kollegen Krivulin, der heute in Deutschland Reden hält und in der FAZ Kolumnen schreibt. So werden einige Fäden einer sehr spezifischen Kultur noch festgehalten, andere trudeln bereits ins Nirgendwo. Die sich verlierende Erinnerung reißt immer größere Löcher in jenes Netz, in dem der osteuropäische Samizdat sich einst bewegte.

Stefan Melle

„samizdat" bis 29.10. in der Akademie der Künste, Hanseatenweg 10, Mo 13-19 Uhr, Di-So 10-19 Uhr

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