Ausgabe 10 - 2000berliner stadtzeitung
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Revue Berlin

Es zieht im Chill-Out der Moderne. Vielleicht klemmen die Türen der Spaßgesellschaft, vielleicht hat Frank O. Gehry wieder das Fenster schief eingebaut, vielleicht pfeifen Gigabytestürme durch die Ritzen. Es zieht in der Postmoderne und keiner weiß woher. Ob Banker, ob Punker, in der Afterhour des Industriezeitalters geht die Angst vor kalten Füßen um. Die Theater dieser Stadt, diese unbestechlichen Thermometer im Achselhaar der besseren Gesellschaft haben das allgemeine Frösteln registriert und drehen nun dankenswerterweise ein bisschen den Radiator hoch im Bungalow Berlin. Zum Saisonstart nach der Sommerpause meldeten sich die Bühnen fast unisono mit boulevardeskem Gefälligkeitstheater zurück, mit wehmütigen Zitaten der modernen Kulturmythen und dem Willen, kleinbürgerlicher Privatheit einen gemütlichen Platz am „Lagerfeuer" der Großstadtnomaden herzurichten. Das Berliner Ensemble amüsiert mit Molieres Familienschwank „Tartuffe" im barocken Wohnzimmer und mit 50er-Jahre-Personal. Vom Pferdeschwanzmädchen bis zur Leningrad-Cowboys-mäßigen Haartolle sind alle Klischees vertreten. Anything goes, solange auf die Schenkel geklopft werden darf und es keinem wehtut. Eine Soap-Opera in der Reihenhaussiedlung bietet die Schaubühne mit Horvaths „Die Unbekannte aus der Seine", wo die Räuber verschlagen, die Spießer rechthaberisch und die Polizisten amtlich und trottelhaft sind. Natürlich nicht wie bei Millowitsch in Eiche rustikal, sondern im normierten Plattenbau mit dezenten Farbtupfern. Zentralheizung auf Stufe 1. Soft-Jazz weht um die Wohnwabe, kühl aber versöhnlich, der Abgesang auf die Moderne. Auch Schillers Aufklärungsstück „Don Carlos" lässt sich problemlos als Sippenklüngel inszenieren, wie das Deutsche Theater beweist, allerdings: mit protestantischer Strenge und ironiefreiem, abstraktem Bühnenbild. So bedient jede Bühne die Voyeurismen ihres Klientels. Ein eigenartig operettenhafter Auftakt, Pantoffeltheater zum Füßewärmen. Nur die Volksbühne zog es vor, sich mit „Stalker" ein wenig im Sci-Fi-Genre zu verzetteln. Es sei ihr vergönnt, schließlich hat sie acht Jahre lang meist virtuos zu Kleinholz gemacht, was jetzt in den heimeligen Kachelöfen von Schaubühne und BE langsam ausglüht: Charaktere und Diskurse, Geschichten und Ideen.

Nur nebenbei: Keiner versteht es besser als Claus Peymann, den Rückzug ins Private als Kreuzzug zu tarnen. Nach vielen Interviews, die viel um den Begriff des Politischen kreisten, präsentierte er im Februar mit dem Kroetz Stück „Ende der Paarung" ein abgehalftertes Politikerpaar in der Etagenwohnung, das sich zwischen Küchenzeile und Ehebett zugrunderichtet. Der Terror der Privatheit ist zwar nicht anheimelnd, aber die Marschrichtung ist klar: Runter von der Straße. Sein Kronprinz Tiedemann legte prompt mit einem revueartigen Marat/Sade nach - eine geschlossene Choreographie, die den Ort, die Irrenanstalt, sanft grooven
lässt. Jeder chillt eben woanders. Übrigens wählte eine Kritikerjury im September das BE zur ärgerlichsten Theatererfahrung des Jahres - wegen des Missverhältnisses zwischen Worten und Taten. Peymann hat bei den Worten nachgebessert und spricht nun häufig von „Hauptstadttheater".

Eine seltsame Verknüpfung aus unfallfreiem „Amüsemang" und Neo-Biedermeier zeichnet sich da ab. Ohne verzweifelt irgendeine Dissidenz zu beschwören, sei doch vermerkt, dass in solchen Zeiten häufig gilt: Die Systemfrage stellt sich nicht mehr. Anders jedoch als in der Restauration zu Metternichs Zeiten meint die Gegenwart spätestens seit Luhmann zu wissen, dass Gesellschaftssysteme sowieso nichts mit Menschen zu tun haben. Wer das verinnerlicht hat, findet die Dialektik des Privaten - Privatisierung öffentlicher Güter einerseits, Rückzug in die Sphäre der privaten Lebenswelten und Szenen andererseits (und deren Inszenierung im Theater, im TV) - natürlich völlig normal. „Das ist vielleicht ein netter Theaterabend, aber was hat das mit mir zu tun", zitierte die taz kürzlich einen jungen Mann bei einem Publikumsgespräch der Schaubühne über das Brecht-Stück „Mann ist Mann". Was fordert er stattdessen? Karrierehilfe? Party? Oder seinesgleichen auf der Bühne, den Spiegel, ohne Netz und doppelten Boden? Die Schaubühne bietet neben Horvath natürlich auch anderes, vor allem viel gestörte oder redundante Kommunikation: Sarah Kane's „Gier", „MEZ" und „Der Name" von Jon Fosse. Möglicherweise verhandeln diese Stücke den Supergau der jungen Generation: Stecker raus, Strom weg, Zero Information. Und am Ende fällt noch, o Graus, die Chill-Out-Heizung aus.

Klemens Vogel

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