Ausgabe 05 - 2000berliner stadtzeitung
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Du Lied aus voller Menschenbrust!

Dietrich Fischer-Dieskau zum 75. Geburtstag

Allein die äußeren Fakten dieser Sängerlaufbahn sind staunenswert. 1947 nahm der am 28. Mai 1925 in Berlin-Zehlendorf geborene Bariton seine erste Winterreise für RIAS auf, seine letzte Aufnahme des Schubertschen Zyklus´ wurde 1992 veröffentlicht. Zwischen dem Début an der damaligen Städtischen Oper in Verdis Don Carlos 1948 und dem letzten Berliner Auftritt mit Mahlers Liedern eines fahrenden Gesellen im Dezember 1992 in der Philharmonie liegt ein Schaffen, das in seiner Vielseitigkeit nicht seinesgleichen hat: Fischer-Dieskau wurde von den wichtigsten Pianisten seiner Zeit begleitet, von Richter, Pollini und von Horowitz, er sang Wagner unter Solti und Karajan, Falstaff unter Bernstein, den Händelschen Saulus unter Harnoncourt, seine epochale Gesamtaufnahme aller für Männerstimme ereichbarer Schubert-Lieder liegt auf 21 CDs vor. Dietrich Fischer-Dieskau hat Werke von Ruzicka, Reimann, Lutoslawski und Rihm uraufgeführt, Béla Bartóks Blaubart hat er auf Ungarisch gesungen, seine 45 Karrierejahre sind besser dokumentiert als das Wirken irgendeines anderen Sängers - mehr als 500 Seiten umfaßt ein "Verzeichnis der Tonaufnahmen", das Monika Wolf kürzlich erstellt hat.

Was aber ist letztlich das Einzigartige an diesem Bariton, wenn man einmal absieht von seiner Entdeckerfreude, die zu einer beinahe enzyklopädischen Dokumentation des deutschen Liedrepertoires (und nicht nur des deutschen) von Johann Friedrich Reichardt bis Othmar Schoeck, von Carl Loewe bis Charles Ives geführt hat? Ich glaube, seine ganz große Stärke liegt gerade dort, wofür er häufig kritisiert wurde: Immer wieder hat man Fischer-Dieskau Oberlehrerhaftigkeit vorgeworfen und Mani¸rismus. Daß dieser Sänger nicht nur mit seinen Stimmbändern, sondern auch mit dem Kopf arbeitete, das ward vielen nachgerade zum Skandal. Symptomatisch, daß der Bariton nie zum Liebling des berüchtigten Wiener Opernpublikums avancierte. Mit Schöngesang hat er sich nie zufriedengegeben. Wie kein zweiter hat er sich stets um eine Durchdringung der Texte bemüht, immer Text und Musik interpretiert. Er wußte immer, was er singt - keineswegs eine Selbstverständlichkeit. Wer Anfang März an der HdK Fischer-Dieskaus jüngster, Robert Schumann gewidmeter Meisterklasse beiwohnte, der konnte erleben, wie er mit literarhistorischem Hintergrundwissen die Entstehungsgeschichte jedes einzelnen Gedichts, das Schumann als Vorlage gedient hatte, in seine Überlegungen einbezog.

In seinen späten Jahren, als stimmlicher Glanz ihm nicht mehr zu Gebote stand, verstand Fischer-Dieskau es auf beeindruckende Weise, diese stimmlichen Defizite für ein Mehr an Ausdruck, an Textdurchdringung zu nützen. Aufnahmen aus dieser Zeit, eine Winterreise mit Murray Perahia etwa, Mahler unter Barenboim, sind oft radikaler als alles, was der Sänger bisher gewagt hatte.

Jetzt wird Fischer-Dieskau 75, das künstlerische Abenteuer geht weiter: Für nächstes Jahr ist eine Aufführung von Schönbergs Moses und Aron mit Fischer-Dieskau in der Sprechrolle des Moses angekündigt. Außerdem tritt er - allzu selten - als Dirigent in Erscheinung und hat lesenswerte Bücher, etwa über Schuberts Lieder, geschrieben. Mir bleibt, einigermaßen willkürlich, vier der 100 allerschönsten Fischer-Dieskau-CDs zu empfehlen.
Florian Neuner

Franz Schubert: Die schöne Müllerin. Jörg Demus (1968) DG 463 502-2
Robert Schumann: Liederkreis op. 24, Dichterliebe etc. Hartmut Höll (1992) Erato 4509-98492-2
Hugo Wolf: Mörike-Lieder. Swjatoslaw Richter (1973). DG 457 898-2
Othmar Schoeck: Das stille Leuchten. Hartmut Höll (1988). Claves 50-8910

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