Ausgabe 05 - 2000berliner stadtzeitung
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Armageddon ohne Superhelden

In Last Night lässt Don McKellar die Welt tatsächlich untergehen

Jeder und jede hat sie sich schon einmal gestellt, die Frage, was man tun würde, wenn man nur noch einen Tag zu leben hätte. Doch was, wenn nicht nur das eigene letzte Stündchen schlägt, sondern die ganze Menschheit vor ihrem Ende steht und sich dessen bewußt ist?

Anders als in den apokalyptischen Szenarien von Independence bis Last Days besteht die einzige Sicherheit für die Protagonisten in Last Night von Don McKellars nicht in einem Halt, den Familie oder Beziehung geben könnten, nicht in einer Gewaltanstrengung zur Verhinderung des Weltuntergangs, die eine ganze Nation oder Weltbevölkerung vereint. McKellar beschränkt sich auf einen kleinen Reigen von Personen, deren Schicksale sich sechs Stunden vor Weltende überraschend wenden, überkreuzen oder auch so klanglos zu Ende gehen wie das bisher geführte Leben. Hier gibt es keine Hoffnung auf Rettung in letzter Sekunde. So sicher ist der Tod, dass der Grund für die Katastrophe nicht mehr diskutiert wird. Sicher ist das absolute Ende. Der Menschheit, der Historie und aller kleinen Lebensgeschichtlein. Lebensgeschichten, die sich das knappe Dutzend einfacher Leute in all ihren Jahren aufgebaut hat. Oder vor denen sie weggerannt sind wie Patrick Wheeler (Don McKellar), den wir anfangs im Kreise seiner Familie kennenlernen und der die verbleibenden gemeinsamen Minuten dazu nutzt, mit ungnädigem Sarkasmus die bemühte und spießige Heile-Welt-Fassade dieses inszenierten Weihachtsessens zu zerätzen. So wenig wie es am Ende aller Tage tatsächlich Weihnachten ist, gibt es irgendwelche anderen bewährten Rituale, mit denen sich dieses Ereignis angemessen begehen ließe. Es gilt eigene Rituale zu erfinden, riesige Parties oder beschauliche Feiern.

Für alle andern ist die letzte Nacht die der absoluten Einsamkeit. Es ist aber auch die Nacht der letzten Chancen. Und für manche - welch schöner Gedanke - sogar die Möglichkeit, ein neues Leben zu beginnen, wenn auch von reichlich kurzer Dauer.

Da ist zum Beispiel Patricks Freund Craig, dem Stil und Image alles bedeuten und der sich vorgenommen hat, vor dem Weltuntergang alle unerfüllten sexuellen Fantasien auszuleben. Oder der Chef des Gaswerks (David Cronenberg), der mit stoischer Ruhe sämtliche Kunden persönlich anruft, um ihnen zu versichern, dass die Versorgung bis zum Ende aufrechterhalten wird.

Die letzten Geschichten dieser Menschen, darauf kommt es McKellar an, werden ihr Leben repräsentieren. Deshalb lehnt Patrick auch in einer der sensibelsten und gleichzeitig amüsantesten Szenen des Films Craigs spontanes Angebot auf eine Erfahrung brüderlicher Liebe dankend ab. Lieber keinen schlechten Sex riskieren. Deshalb geraten Patrick und Sandra, die Frau des Gaswerkmenschen, in Panik, als sie feststellen, dass ihre zufällige Bekanntschaft eine lebenslange sein wird.

Als hätte McKellar selbst noch eine Sympathieerklärung abgeben wollen, bevor mit der Jahrtausendwende vielleicht alles vorbei ist, portraitiert er seine Helden und Heldinnen, wenngleich stellenweise etwas holprig, mit erstaunlich viel Mitgefühl, aber auch einem guten Schuß Bosheit. Und auch wenn es nur im Film stattfindet, das Ende der Welt setzt sich im Gedächtnis fest.
Markus Sailer

Last Night. Canada 1998. Regie: Don McKellar. Darsteller: Don McKellar, David Cronenberg, Sandra Oh u.a. Kinostart: 18.5. im fsk

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