Ausgabe 05 - 2000berliner stadtzeitung
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Gnadenloser Familienkrieg

Tim Roths verstörendes Regiedebüt "The War Zone"

Dieser Film schmerzt wie ein eiskalter morscher Holzpfahl, der einem langsam in den Bauch gestoßen wird. In The War Zone ist eine ganz normale Familie der Kriegsschauplatz. Worum es in diesem Krieg geht, entwickelt sich jedoch erst allmählich, beinahe unmerklich. The War Zone ist ein Drama ohne Ausweg um Inzest und Missbrauch, das seine zutiefst beunruhigende Wirkung vor allem aus der gnadenlosen Beharrlichkeit des Kamera-Blicks und der vollständigen Abwesenheit von Bildern verdankt, an denen man verweilen will.

Zu Beginn stehen Szenen familiärer Vertrautheit und Ruhe. Mutter und Vater, die mit ihrem picklig-pubertierenden Sohn Tom und seiner älteren Schwester Jessie vor kurzem erst von London in die karge und ewig nasskalte Landschaft von Devon in England gezogen sind.

Am Abend sitzen alle schweigend zusammen, trinken Wein. Es ist still. Dunkel. Bereits zu diesem Zeitpunkt entsteht ein Gefühl des Mangels an Wärme in diesem alten Bauernhaus, und man sucht angestrengt nach Geschlossenheit sowohl in der Familie als auch der Topographie. Als Zuschauer hat man keine Orientierung in diesen Räumen, die wie Zellen wirken in einem Bau, in die sich die Mitglieder gelegentlich zurückziehen. In dieser Atmosphäre entwickelt sich mit irritierender Langsamkeit eine klaustrophobische Tragödie, deren gelähmter Zeuge man wird, ähnlich wie der in sich gekehrte und verunsicherte Tom, der nicht weiß, in welche Richtung er seinen verhaltenen Hass lenken soll.

Die Protagonisten lassen den gesamten Film über deutliche Zeichen von Affekten und Emotionen fast völlig vermissen. Je weniger zu sehen ist, desto länger verharrt die Kamera mit quälender Ausdauer auf Gesichtern, die nicht preisgeben, was sich hinter ihren Augen abspielt. Man sehnt sich förmlich nach Filmmusik, die das Geschehen etwas auflockern oder wenigstens kommentieren würde. Außer ein paar einsilbigen Sätzen werden kaum Worte gewechselt. Und dennoch lassen alle Beteiligten Schönheit und Würde erahnen, auch wenn sie den Bildern nicht zu entnehmen sind.

Mit derartigen Widersprüchen wird man in The War Zone allein gelassen, und sicherlich trägt dies neben der schweren Kraft der Bilder zu der hohen Involviertheit und Unruhe bei, mit der man diesen Film betrachtet. Irgendwann mischt sich jedoch die Frage nach der Notwendigkeit, Berechtigung für diese Bilder in die Lähmung, mit der man das Geschehen verfolgt.

Befriedigen derart drastische Szenen wie Roth sie entwirft nicht immer auch eine gewisse Neugier, die durch die Darstellung des Nichtvorstellbaren befriedigt wird, auch wenn es noch so schwer auszuhalten ist? Aber vielleicht besteht gerade die größte Leistung Roths im Verankern eines derartigen Unbehagens.
Markus Sailer

The War Zone. GB 1999. Regie: Tim Roth. Darsteller: Tilda Swinton, Ray Winstone, Freddie Cunliffe, Lara Belmont. Kinostart: 1.6.

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  Ausgabe 05 - 2000