Ausgabe 05 - 2000berliner stadtzeitung
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Strange Loops

Der Monolog "MEZ" an der Schaubühne

Wenn die gehirneigene Software die grauen Zellen wieder und wieder per neuronaler Endlosroutine nach dem entscheidenden Programmierfehler abscannt, könnte es sein, dass das System Mensch jüngst ein Beziehungsdesaster erlebt hat. Zuhören sollte beim zerebralen Stricken der diskursiven Zwangsjacke besser niemand, denn Verlautbarungen wie "Die Geschäfte sind golden beleuchtet, MEZ, auch wegen der Zeitansage; fremde Wörter Phase B, hör doch auf, hör doch endlich auf" verstören meist, und wer keinen sehr guten Kumpel hat, bekommt schnell einen mittelmäßigen Psychiater. Manche finden die Eskapaden der Black-Box zwischen unseren Schultern allerdings inspirierend, etwa die Surrealisten der 20er Jahre, die ihren Bewusstseinsstrom in Echtzeit niederschrieben, oder der Autor Roland Schimmelpfennig, dessen Drama "MEZ" - eine monologische Analyse des Endlosschleifensyndroms - jetzt an der Schaubühne von Gian Manuel Rau in Szene gesetzt wurde.

Ach ja, die Schaubühne. Eines kann der Ostermeier-Gang nach nunmehr vier Monaten Dienstzeit nicht vorgeworfen werden: dass sie kein Konzept hätten. Ob "Personkreis 3.1", "Gier" von Sarah Kane oder jetzt "MEZ" - hier wie dort gilt das Motto: es bewegt sich nichts, überhaupt nichts, aber auch rein gar nichts. Das tut es allerdings mit Stil. Fragt sich nur, ob das schon ein Programm oder doch eher ein Symptom ist.

Beim Monolog "MEZ" ist das Programm das Symptom, und das Symptom ist Programm. Die Krankheit des Mannes (mit viel Speicherkapazität im Hirn: Ronald Kukulies) kennt der Humanismus als "Verlust der Geliebten", der Informatiker nennt es Systemabsturz. Das exemplarische Notprogramm "MEZ" des Human-Informatikers Schimmelpfennig durchforstet die Trennungsszene stur nach einem Ansatz, sagen wir: zum Persönlichkeits-Back-Up, und das Medium Kukulies lässt die Öffentlichkeit schauspielernd daran Teil haben. Kneipenszenen tauchen da auf, Straßenszenen, immer wieder, aufgemischt mit peinlich-melancholischen Sätzen wie "das wäre ein passender Augenblick für Gesprächigkeit", bizarr vertieft durch Angaben über Schuhlängen in Zentimetern oder Schrittlängen in Metern. Die mal mönchisch-entrückte, mal hysterische Rede ist durchtränkt von diesem autistischen Zahlen- und Exaktheitswahn, "Zollstock" fungiert als oft strapaziertes Schlüsselwort. Wir gucken einem Menschen während einer proto-autistischen Phase beim Denken zu. Der "Rainman" in jedem von uns.

Der introspektive Zusammenschnitt verweigert hartnäckig jede Vorstellung biographischer Besonderheit, absichtlich wahrscheinlich, um die Allgemeingültigkeit der pathologischen Episode zu dokumentieren. Doch der serielle Mensch taugt nur zur Triebabfuhr (siehe Big-Brother-Hype) niemals zur Identifikation. So bleibt das Stück eine Fallstudie für linguistisch, psychiatrisch oder mnemotechnisch Interessierte.

In "MEZ" reproduziert die Schaubühne also wiederum die radikale Verweigerung jeder Entwicklung oder gar Katharsis, eine Masche, die bei Brecht ja noch sexy war, da sich jeder die reale Revolution dazuphantasieren durfte, mit ordentlich Rambazamba auf der Straße. Heutzutage gleicht es einem Fanal der Kraftlosigkeit, so als hätte man den Systemtheoretiker Niklas Luhmann beauftragt, ein Theaterstück über die selbst-referenzielle Kommunikation biologischer Systeme aufzuführen. Bewundernswert ist allerdings die Kunst der exakten Rezitation einer vollkommen fragmentierten Rede. Artistik heute heißt wohl: Simulation der Maschine.
Klemens Vogel

"MEZ" von Roland Schimmelpfennig, Schaubühne am Lehniner Platz, 10.6. und 11.6. um 20 Uhr, 12.6. um 19.30 Uhr, Karten unter 89 00 23

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