Ausgabe 12 - 1999berliner stadtzeitung
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Kopftouristen

Zwei Comicromane

In den letzten Jahren ist in Frankreich ein verhaltener Trend zu umfangreichen, schwarz-weiß gezeichneten Comicerzählungen in kleinerem Buchformat zu beobachten. Der Zürcher Verleger David Basler sieht in dieser Entwicklung die Chance, einem literarisch interessierten Publikum die epischen Möglichkeiten von Bildgeschichten nahe zu bringen und hat in seiner Edition Moderne das Format als eigene Reihe eingerichtet.

Deren erste Publikation ist mit Edmond Baudoins "Die Reise" ein echter Glücksfall für deutschsprachige Leser, handelt es sich doch um einen der Höhepunkte seines umfangreichen Werkes, das bislang nur mit einigen Geschichten im übrigens durchweg empfehlenswerten Comicmagazin Strapazin zugänglich war.

Baudoin zeichnete seinen Roman ursprünglich für den japanischen Verlag Kodansha. Er ist ein Meister des Tuschpinsels, den er, ähnlich wie die japanischen Kalligraphen, bis in die feinste Nuance hinein zu kontrollieren versteht. Sein Strich wirkt zunächst roh und expressiv, ist aber zugleich zart und äußerst differenziert im graphischen Detail.

Erzählt wird die Geschichte eines Mannes, der aus seiner Persönlichkeit geworfen wird: Sein Kopf ist "offen", er kann sich nicht mehr vor seinen Eindrücken schützen. Die Dinge, die er sieht, seine Mitmenschen und ihre Gefühle dringen ungefiltert in ihn ein. Er scheint nicht mehr zu wissen, wer er ist, verläßt seine Familie und läßt sich treiben.

Durch seinen offenen Kopf ist er zum naiven Träumer geworden, der für alles gleichermaßen zugänglich scheint. Er hat so viele Träume, daß er nicht weiß, welchem er folgen soll. Schließlich findet er in der Liebe neuen Halt, sein Kopf schließt sich wieder. Die eigentliche Geschichte aber mit ihren unzähligen Wendungen läßt sich kaum nacherzählen, der Inhalt ist nicht zu trennen von Baudoins erzählerischen Mitteln

"Die Reise" ist übervoll von überraschenden Bildfindungen und ungewöhnlichen Perspekiven; mit seinen einzigartigen künstlerischen Ausdrucksmöglichkeiten erreicht Baudoin eine poetische Kraft, die den Leser ganz in die Geschichte hineinzuziehen vermag.

Anders als der virtuos-eigenwillige Baudoin, bedient sich Lewis Trondheim eines gängigen, reduzierten Tierfunny-Stils. Trondheim, der sich in wenigen Jahren als einer der wichtigsten französischen Comicautoren etabliert hat, beeindruckt nicht mit graphischen Extravaganzen, im Vordergrund steht immer die mit leichter Hand inszenierte, humoristische Erzählung.

Der Berliner Verlag Reprodukt erzielte mit dem Band "Die Fliege" gerade in Buchhandlungen eine beachtliche Resonanz und ließ nun die umfängliche Sammlung der "Approximate Continuum Comics" folgen.

Ursprünglich als Heftreihe veröffentlicht, mischt Trondheim in diesem autobiographischen Werk Alltagsanekdoten und sporadische Kindheitserinnerungen mit Reflektionen über seinen Charakter und seine Arbeit als Künstler. Im Gegensatz zur textfreien ÈFliegeÇ zeigt er hier seinen üblicherweise dialogorientierten Humor, die flüchtigen Zeichnungen entsprechen der unprätentiös dahingeplauderten Erzählweise.

Trondheim porträtiert sich selbst als griesgrämigen Vogel, der ständig mit seinen Unzulänglichkeiten als Künstler und Mensch hadert, sich Schlamperei und kleinlichen Hochmut gegenüber den Mitmenschen vorwirft. Die ausschweifenden Dekonstruktionen seines Charakters sind mitunter hart an der Grenze zur Larmoyanz, seiner einfallsreichen Inszenierung gelingt es aber zumeist, auch den nicht endlos geduldigen Leser bei Laune zu halten.

In seinem Element aber ist Trondheim immer dann, wenn es gilt, dreistes Verhalten enthemmter Zeitgenossen darzustellen. Höhepunkte sind hier ein Klobürstengefecht, eine durch ein derangiertes Drogenwrack entgleiste Party und Urinbombengeschichten bei Tisch.
Kai Pfeiffer

Edmond Baudoin: Die Riese, 228 Seiten, Edition Moderne Zürich 1998
Lewis Trondheim: Approximative Continuum Comics, 160 Seiten, Reprodukt Berlin 1999

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