Ausgabe 12 - 1999berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Musik für die Massen

Ein Geschenk muß her. Aber wer verschenkt schon CD«s? Inzwischen tun es selbstgebrannte. Gekaufte zu verschenken, ist ungefähr so einfallsreich wie Geschenke in Zeitungspapier einzuwickeln. Bei den Selbstgebrannten ist das anders. Die darf man sogar in alte Zeitungen einwickeln.

Steht ein stressiges Weihnachten in verwandtschaftlichen Kreisen bevor? Da hilft jenes Produkt aus Weilheim: groovender (handgemachter!) Jazz und elektronischer Dub, entspanntes Fliessen und fantasievolles Strecken - so viel fettes Essen und Gezeter unterm Baum kann es gar nicht geben, als dass das Tied & Tickled Trio mit EA1 EA2(Payola/Virgin) mit ihren unangestrengten Kompositionen in schlichtes Wohlgefallen auflösen würden.

Weihnachten allein zu Haus und Angst vor dem Blues? Mit größter Rücksichtnahme nähert sich Raz Ohara auf seiner ersten Veröffentlichung Realtime Voyeur (Kitty-Yo) diesem Gefühl. Der in Berlin lebende Däne formuliert die allbekannte Metropolen-Melancholie - die Stadt voller Menschen und doch allein. Unprätentiös überführt er sie mit TripHop-Beats - inklusive Stolperbässe - in eine Gefühlslage leichter Zuversicht. Das beherrscht er so perfekt, dass er aus dem Pixies-Klassiker Where is my mind eine elegische Tanznummer mit TexMex-Sound zaubert. Ein kleines Kunststück.

Diesen Gefühlen nicht gänzlich verschlossen ist Herr Knarf Rellöm Ism. Allerdings beschränken sich diese bei Fehler ist King (What«s so funny about) auf eine wundervolle Ballade - Mr. Blue. Und selbst die ist - trotz Geigenarrangement - von extremer Ironie und weitesten Abschweifungen geprägt. Das Weitauseinanderliegende zusammendenken, steht in jeder Beziehung über diesem absurd-genialen Werk. Musikalisch reicht es von Psycho-Rockabilly über Elektronik-Bastel-Krach bis hin zum erwähnten Balladenschmalz. Spagat auf ganzer Linie wie bei Hey! Everybody: fetter Disco-Rhythmus und schnoddrige Politanalyse: "Das war kein Sozialismus. Das war Spießerkram. Wir sind nicht am Ende. Wir fangen an." Um was geht es also? Verstörung im gepflegten Vorgarten der Neuen Mitte. Manifest und Mehrdeutigkeit geben sich die Hand und zelebrieren lustvoll das Nichteinverstandensein.

Zum Schluß noch ein wirkliches Weihnachtsschmankerl. Anfang des Jahrzehnts entstand etwas, das schnell mit Namen Girlism versehen wurde. Bands wie L7 oder Hole schossen in die Charts. Ein Style war da und schon auf dem besten Wege zu verwässern. Mit Bikini Kill bewegte sich die Sängerin Kathleen Hanna schon damals abseits dieser Erfolgsschiene und hat jetzt mit der Videofilmerin Sadie Bennings und der Künsterlin Johanna Fateman mit Le Tigre (Connected) eine neue Band gegründet. Nach wie vor geht es um Verweigerung und Feminismus, aber anders als bei Bikini Kill auch um Infragestellung eigener Positionen. Deswegen ist es folgerichtig, wenn Le Tigre nicht nur als Rockband, sondern auch als Kommunikationsprojekt in Erscheinung treten und mit wohldosierter Sampleelektronik und Garagerock in eine neue Richtung weisen.
Marcus Peter

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  Ausgabe 12 - 1999