Ausgabe 12 - 1999berliner stadtzeitung
scheinschlag

Diese Ausgabe

Inhaltsverzeichnis


Zur Homepage

Erst verjagen, dann beschenken

AG City hilft schon verdrängten Obdachlosen -
Wilmersdorf betreibt Drogenpolitik mit der Kettensäge

Nikoläuse kamen auf Fahrrädern und Rikschas auf den Breitscheidplatz gefahren, den Sack voll milder Gaben für die Obdachlosen, die sich rund um den Bahnhof Zoo und die Gedächtniskirche aufhalten: Mandarinen, Schokolade, Seife und warme Socken. Geschickt wurden die Weihnachtsmänner vom Schaustellerverband, der derzeit auf dem Breitscheidplatz einen Weihnachtsmarkt veranstaltet, und von der AG City, einem Zusammenschluss der Kaufleute am Kurfürstendamm und an der Tauentzienstraße.

Ein "Zeichen gegen soziale Benachteiligung" sollte die Aktion setzen, sagte eine Sprecherin der AG City. Außerdem lobte sie in der Adventszeit einen Weihnachtsgedichtwettbewerb für Jugendliche aus, bei dem für jedes eingeschickte Gedicht zehn Mark von der AG City an eine Kontakt- und Beratungsstelle für obdachlose Straßenkinder gespendet wurden.

Dass sich die AG City um das Wohlergehen der Obdachlosen sorgt, ist allerdings neu. Im Alltag, wenn gerade mal nicht Weihnachten vor der Tür steht, sorgt sich die AG City mehr um ihre Umsätze und vertreibt mit den von ihnen bezahlten Sicherheitskräften die die Bettler vom Ku´damm. Den "herumlungernden" Obdachlosen wird nämlich vorgeworfen, sie würden allein mit ihrer Anwesenheit den Kunden das angenehme Konsumklima verleiden. Auch die "Operative Einsatzgruppe City-West" der Polizei, die auf dem Breitscheidplatz immer wieder fremdländisch aussehende Menschen verdachtsunabhängig kontrolliert und drangsaliert, ist auf Betreiben der AG City gebildet worden.

Ob die Nikoläuse auf dem Breitscheidplatz tatsächlich ihre Zielgruppe persönlich angetroffen haben, ist fraglich. Die Szene ist schon in andere Stadtteile verdrängt worden. Wilmersdorf sieht sich derzeit mit der verlagerten Drogenszene konfrontiert. Im Preußenpark hat sich ein neuer Treffpunkt herausgebildet. Das erkannte auch das Bezirksamt. Baustadtrat Alexander Straßmeir (CDU) hat auch schon die Lösung parat: Entlang der Württembergischen Straße sollen 65 Bäume gefällt und weitere Sträucher gerodet werden, damit sich Drogenhändler und -konsumenten nicht mehr im dunklen Dickicht verstecken können. 214 000 Mark will sich der Bezirk diese Maßnahme kosten lassen. In einem späteren Schritt soll das Toilettenhaus im Preußenpark - ein bekannter Schwulentreffpunkt - in ein Materiallager für das bezirkliche Grünflächenamt umgebaut werden. Als Ersatz soll eine klinische Wall-"City-Toilette" aufgestellt werden.

Wer es sich leisten kann, verdrängt Randgruppen, die nicht ins Bild der heilen Welt passen, nach irgendwo - so sind die zynischen Spielregeln. Nachher kann man sich das Gewissen mit billigen Almosen reinwaschen.
Jens Sethmann

© scheinschlag 2000
Inhalt dieser Ausgabe | Home | Aktuelle Ausgabe | Archiv | Sitemap | E-Mail

  Ausgabe 12 - 1999