Ausgabe 12 - 1999berliner stadtzeitung
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"Widerliche Filme für widerliche Leute"

Die Durchsuchung und Schließung des Videodroms

Berlin sieht sich gern als Medienstandort und Existenzgründungsmetropole. Am 23. November wurde jedoch dieser Anspruch schwer in Frage gestellt. Nach einer Anzeige eines westdeutschen Anwaltes wegen Verbreitung jugendgefährdender Werke wurde die Kreuzberger Videothek Videodrom, die sich auf Originalfassungen und sonst nicht verfügbare Filme und Serien spezialisiert hat, von der Polizei durchsucht und vom Wirtschaftsamt des Bezirkes geschlossen.

Tatsächlich sind von der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften ("Schrift" umfasst alle medialen Erzeugnisse, also auch Videos und Tonträger) indizierte Werke im Sortiment des Videoverleihs und dem ihr angegliederten Versand und Verkauf. Diese Filme sind jedoch nicht verboten, sie dürfen lediglich nicht beworben und an Jugendliche unter 18 Jahren ausgeliehen oder verkauft werden. Das Videodrom verstößt in keinster Weise gegen das Gesetz - nur Volljährige werden als Kunden aufgenommen, und der Zutritt für Menschen unter 18 Jahren wird deutlich untersagt.

Trotzdem beschlagnahmten Polizisten aus dem Verleih-, Verkaufs- und Versandangebot ca. 670 Titel. Darunter sind Filme wie "Braindead" von Peter Jackson, David Lynchs "Wild At Heart", "Underground" von Emir Kusturica, "Léon, der Profi" von Luc Besson, Takeshi Kitanos "Violent Cop", "True Romance" von Tony Scott sowie Christoph Schlingensiefs "100 Jahre Adolf Hitler". Aber auch Grundlagen des Schulgeschichtsunterrichtes wie Erwin Leisers "Mein Kampf" und die US-Miniserie "Holocaust" wurden als "verdächtig" eingestuft und zur Überprüfung einkassiert.

Diese unsachkundige und willkürliche Beschlagnahme ist zwar schon schlimm genug, aber auch andere Videoverleihe wie die kleinere, ebenfalls Originalversionen anbietende Videothek Incredibly Strange Video in Schöneberg oder Filialen der Kette Video World durften im Rahmen der immer wiederkehrenden Gewalt-in-den-Medien-Hysterie Polizeibesuch empfangen. Einmalig und besonders verheerend dagegen ist die Schließung des Videodroms, um weitere "kriminelle Aktivitäten" zu verhindern. Den beiden Besitzern und dreizehn Mitarbeitern wird damit die Existenzgrundlage und Kulturschaffenden die Arbeitsgrundlage entzogen, wie die sich solidarisch erklärenden Franka Potente, Tom Tykwer, Sophie Rois, Jürgen Vogel, Detlev Buck, der Regisseur des beschlagnahmten Splatterfilmes "Nekromantik" Jörg Buttgereit, der Direktor der Deutschen Film- und Fernsehakademie Reinhard Hauff und die Ärzte (selbst Opfer der Indizierung und Zensur) verkündet haben.

Das Videodrom deckt mit seinem Sortiment nahezu alle Bereiche des Filmes ab, vom Hollywoodkintopp bis zu Underground- und Experimentalfilme von Andy Warhol und Stan Brakhage, Videokunst und Kunstvideos, Stummfilme, nichtdeutschsprachige Filme oft in Originalversionen, Animation, Kultserien, Dokumentationen und Exploitationfilme jeglicher Couleur. Auch das Angebot an Musikdokumentationen, Clipsamplern und Livemitschnitten von Mainstream-und experimentellen Künstlern ist in Berlin einmalig. Wie oft war das Videodrom die letzte Rettung für verzweifelte Studenten, Journalisten Filmemacher und Wissenschaftler, die dort Filme gefunden haben, die es sonst in keiner Hochschule, Bibliothek oder Archiv gab?

Leider haben Justiz und Wirtschaftsamt Videodroms Werbeslogan "widerliche Filme für widerliche Leute" zu ernst genommen. Die Verteufelung der Medien als gewaltverherrlichend und verrohend, die zur Schließung des Videodroms beigetragen hat, verschleiert eine durchaus notwendige Auseinandersetzung mit der Wechselwirkung zwischen Massenmedien und gesellschaftlichen Entwicklungen. Um diese Auseinandersetzung fundiert zu führen, müssen jedoch die Analysegegenstände auch verfügbar sein, und das Videodrom hat mit seinem Sortiment eher einen Beitrag zur Diskussion als zur Jugendgefährdung geleistet. Die "kafkaeske, aber schlecht inszenierte" (Videodrom-Pressesprecher Thomas Klein) Darbietung der Polizei und des Wirtschaftsamtes trägt jedenfalls nichts zu diesem Diskurs bei, sondern dient bestenfalls als Anschauungsmaterial für eine reaktionäre Medienpolitik und das Kulturverständnis.

Vom 9.-15. Dezember zeigen die Kinos Eiszeit, Central, Filmkunst 66, fsk, Balasz, Blow Up, Brotfabrik, Filmbühne am Steinplatz, Hackesche Höfe und Xenon beschlagnahmte Filme wie Braindead, Nekromantik, Violent Cop, Mein Kampf, 100 Jahre Adolf Hitler, Léon, der Profi usw.

Am 13./14. Dezember legen im WMF und im Columbia Fritz prominente DJs zugunsten des Videodroms auf. 13.12. WMF: Jazzanova, Clé, Dixon, Mitja Prinz u.a./14.12. Columbia Fritz: Alec Empire, Minsky, Mijk Van Dijk, Stereo De Luxe u.a. Eine "Anti-Zensur-Revue" findet am 17. Dezember ab 19.30 Uhr in der Akademie der Künste statt, mit Vorträgen, Filmausschnitten und Diskussion. Als krönender Abschluss ist der "widerliche Film" South Park-Bigger and Uncut geplant.
Natalie Gravenor

Spendenkonto: Dirk Kunji u.a.
Förderverein Videodrom, Deutsche Bank 24, BLZ 100 700 24, Kto.-Nr. 1741107

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  Ausgabe 12 - 1999