Ausgabe 12 - 1999berliner stadtzeitung
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Theater mit zwei Gesichtern

Das versteckte apt-Figurentheater in der Torstraße

Torstraße 175, eines der vielen mit Vorhängen zugedeckten Ladenlokale: Dunkel, unbeleuchtet, offensichtlich schon seit längerer Zeit nicht renoviert. Doch der erste Eindruck täuscht.

Seit knapp zwanzig Jahren befindet sich hier im Erdgeschoß in einem liebevoll ausgestalteten Bühnenraum das Figurentheater der Humboldt-Universität. An der Wand hängen verschiedene Puppen, einige an asiatisches Schattentheater erinnernd, andere ans klassische Figurenspiel. Gesichter aus Holz, Metall und Stoff äugen im Scheinwerferlicht auf den Besucher, der das Theater durch eine schmale Tür betritt, die ohne Zweifel jedem Pariser Literatencaféder zwanziger Jahre zur Ehre gereichen würde.

Das kleine, bereits 1973 gegründete Ensemble unter der Leitung des "schreibenden Naturwissenschaftlers" Christian Noack setzt ganz bewußt, von der Humboldt-Universität als Träger unterstützt, auf einen "alternativen" Theaterweg. Die Gruppe läßt sich Zeit für ihre Stücke, probt außergewöhnlich lang und versucht, auch nach den Aufführungen das Gespielte durch neue Varianten zu bereichern. Dabei geht es nicht um ein Figurenspiel im gewohnten Sinn. Mensch und Puppe agieren zusammen, mißtrauen sich und wagen ein Verführspiel zwischen zwei Gesichtern. Der Mensch als ständiger Rollentauscher, als Handlanger der Fäden, an denen er selber hängt - dieser Aspekt zeigt sich in den Aufführungen des apt-Theaters immer wieder von einer neuen spannenden und sinnlichen Seite.

So wird in der aktuellen Produktion der uralte sumerische Mythos von Gilgamesch, dem Halbgott-König aus dem Zweistromland zwischen Euphrat und Tigris, erzählt. Seine Freundschaft mit dem "Wilden" Enkidu hat der Autor Christian Noack als moderne, im weitesten Sinn politische Parabel über Macht und Ohnmacht menschlicher Freiheitsentwürfe inszeniert. Gerade das Zusammenspiel zweier stark unterschiedlicher Charaktere, die sich von Zigaretten qualmenden Göttern umstellt sehen, macht die Inszenierung zu einem deutsch-deutschen "Mythos". Mit einem Lächeln erzählt der Autor, er arbeite schon lange an dem Stück und in den letzten zehn Jahren habe er sehr viel daran ändern und weiterverarbeiten müssen. Und ohne Zweifel sieht man am Ergebnis die faszinierende Eigenschaft jedes besseren Mythos: er hält selbst für die kurioseste Gegenwart noch Bezüge bereit.
Gernot Wolfram

Nächster Spieltermin: "Gilgamesch", 21. Januar 2000, 20.30 Uhr, apt-Figurentheater, Torstraße 175.
Eintritt: 10 DM, ermäßigt 7 DM

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  Ausgabe 12 - 1999