Ausgabe 12 - 1999 | berliner stadtzeitung scheinschlag |
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GespensterNeulich in der Volksbühne. Während auf der Bühne gerade ein Sohn seine Mutter massakriert, unterhalten sich leise zwei Männer. Der eine ist ein unscheinbarer, blasser Franzose mittleren Alters, der andere ein sonderbarer Herr in altmodischer Kleidung, wie man sie Mitte des 19. Jahrhunderts getragen haben mag. Michel H. (blasser Franzose): "Es schmerzt mich, die eigenen Gedanken wieder erkennen zu müssen. Ob es eine gute Idee war, diese Bücher zu veröffentlichen?" Michel H. registriert zwar, dass sich Sören K. in diesem Moment in Luft auflöst, spricht aber weiter, als wäre er noch da. "Ich war kürzlich in einem anderen Theater (Sophiensaele) hier in dieser Stadt. Da saßen halbnackte Frauen um einen Tresen herum und hörten einem besoffenen Vertretertyp zu. Irgendwann fragte die eine Frau, ob sie ihm einen lutschen könne. Aber er lehnte ab mit der Begründung, dass er emotional unabhängig sei. Und dann entwarf er ein Bild unserer Gesellschaft. Sein Bild, wie er betonte. Demnach sitzen wir nicht in einem Zug, der sich auf den Abgrund zu bewegt, sondern der Zug fährt längst im Abgrund immer im Kreis herum. Solche Bilder machen mir Angst." Auf der Bühne fängt es an zu brennen. Michel H. blickt kurz auf. Dann redet er weiter. "Mich interessiert doch nur die Frage, warum so viele Menschen beim Sex nichts mehr empfinden." Sören K. taucht wieder auf. Er strahlt zeitlos übers ganze Gesicht. "Es brennt. Lassen Sie uns gehen. Und hören Sie endlich mit Ihrem existenzialistischen Genörgel auf. Davon wird der Sex nicht besser. Und das Theater auch nicht." Michel H. schaut verdutzt auf, schämt sich und nimmt sich dann vor, ein neues Buch zu schreiben, in dem er nur von wahren und schönen Dinge berichtet.
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Ausgabe 12 - 1999 |