Ausgabe 12 - 1999berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Gespenster

Neulich in der Volksbühne. Während auf der Bühne gerade ein Sohn seine Mutter massakriert, unterhalten sich leise zwei Männer. Der eine ist ein unscheinbarer, blasser Franzose mittleren Alters, der andere ein sonderbarer Herr in altmodischer Kleidung, wie man sie Mitte des 19. Jahrhunderts getragen haben mag.

Michel H. (blasser Franzose): "Es schmerzt mich, die eigenen Gedanken wieder erkennen zu müssen. Ob es eine gute Idee war, diese Bücher zu veröffentlichen?"
Sören K. (sonderbarer Herr): "Das habe ich mich auch oft gefragt. Aber ich habe nie eine Antwort gefunden."
Michel H.: "Diese Nachkriegsdeutschen haben ein großes Talent darin, sich ihrer romantischen Wurzeln zu berauben. Es ist doch erstaunlich, dass so ein junger Regisseur (Sebastian Hartmann) zeigen muss, wie die Nazis und die allgemeine Familienzerrüttung im Zusammenhang stehen, finden Sie nicht auch, werter Kollege?"
Sören K.: "Ich glaube, er hat mich richtig verstanden."
Michel H.: "Wie können Sie so etwas sagen? Ich kann keinerlei Leidenschaft für wahren Glauben entdecken."
Sören K.: "Er befreit sich von einem Leiden, das ihn nicht wirklich umtreibt. Er beschwört die Geister der Apokalypse, aber er traut seinen eigenen Reden nicht. Er ergötzt sich am Leiblichen. Er verachtet die Kirche. Er sucht Religion. Er will Lebensfreude. Er sehnt sich nach Schmerz und Abenteuer, um einen Grund zu erlangen, auf dem er existieren könnte. Es regiert das Wesen der Parodoxie."
Michel H. blubbert aufgeregt vor sich hin.
Sören K.: "Es gibt nichts aufzuheben. Sehen Sie doch nur, diese Frau (Sophie Rois), wie sie krächzt und singt, wie sie verloren und lebenssicher zugleich ist, wie sie leidet und sich sehnt und mutig den Wirren begegnet. Ist sie nicht großartig?! Und sie scheint noch so jung zu sein. Ihr Anblick löst alle Beklemmungen in mir und meine Seele steigt auf wie ein Adler, der mit reicher Beute in seinen Horst zurückkehrt."
Michel H.: "Ich kann Ihnen nicht folgen." Sören K.: "Das macht nichts."

Michel H. registriert zwar, dass sich Sören K. in diesem Moment in Luft auflöst, spricht aber weiter, als wäre er noch da. "Ich war kürzlich in einem anderen Theater (Sophiensaele) hier in dieser Stadt. Da saßen halbnackte Frauen um einen Tresen herum und hörten einem besoffenen Vertretertyp zu. Irgendwann fragte die eine Frau, ob sie ihm einen lutschen könne. Aber er lehnte ab mit der Begründung, dass er emotional unabhängig sei. Und dann entwarf er ein Bild unserer Gesellschaft. Sein Bild, wie er betonte. Demnach sitzen wir nicht in einem Zug, der sich auf den Abgrund zu bewegt, sondern der Zug fährt längst im Abgrund immer im Kreis herum. Solche Bilder machen mir Angst."

Auf der Bühne fängt es an zu brennen. Michel H. blickt kurz auf. Dann redet er weiter. "Mich interessiert doch nur die Frage, warum so viele Menschen beim Sex nichts mehr empfinden."

Sören K. taucht wieder auf. Er strahlt zeitlos übers ganze Gesicht. "Es brennt. Lassen Sie uns gehen. Und hören Sie endlich mit Ihrem existenzialistischen Genörgel auf. Davon wird der Sex nicht besser. Und das Theater auch nicht."

Michel H. schaut verdutzt auf, schämt sich und nimmt sich dann vor, ein neues Buch zu schreiben, in dem er nur von wahren und schönen Dinge berichtet.
Stefan Strehler

© scheinschlag 2000
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