Ausgabe 01 - 1999berliner stadtzeitung
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Das Große Spiel

von Horst Evers

Manchmal, wenn ich den ganzen Tag vorm Fernsehn sitze und da rein gucke, meldet sich meine innere Stimme.

- Horst, solltest du nicht etwas Sinnvolleres machen, als den ganzen Tag Fernsehn zu gucken? Etwas Besonderes! Etwas Außergewöhnliches, etwas, was du noch nie gemacht hast! Etwas wie Fensterputzen zum Beispiel?

Innere Stimmen können manchmal ziemlich nerven. Diesmal jedoch beschloß ich, ihr eine faire Chance zu geben. Ich entschied mich für eine gerechte sportliche Lösung. In meinem Kopf begann das große Spiel. Das Spiel meiner gegensätzlichen Gedanken um den großen: "Was macht Horst mit seinem Tag-Pokal!" Wir schalten ins Kleinhirnstadion: - Guten Tag, liebe Zuschauerinnen und Zuschauer, ich begrüße Sie hier im mit 2,5 Milliarden Hirnzellen restlos ausverkauften Kleinhirnstadion von Everskopp zum mit Spannung erwarteten großen Endspiel um den begehrten "Was macht Horst mit seinem Tag - Pokal". Hier kommen die beiden Gedankenmannschaften. Da ist zum einen der Herausforderer, das junge, aufstrebende, grad erst wieder spektakulär verstärkte Team vom "1. FC Horst, jetzt reiß dich aber mal zusammen". Nicht wenige Experten halten das junge, stark motivierte Team von Trainer "Mal vorankommen jetze", endlich reif für den ersten großen Titel. Aber auf der anderen Seite steht kein geringerer als der Titelverteidiger, der Favorit, der seit Jahren ungeschlagene "VfL Boarh, bin ich kaputt". In den letzten Jahren hat die Mannschaft von Trainer "Morgen is auch noch´n Tag", so ziemlich alles gewonnen, was es in Everskopp zu gewinnen gab. Hat das ehrgeizige Team der Zusammenreißer überhaupt eine Chance gegen diese routinierte, mit allen Wassern gewaschene Startruppe?

Über 600 Fernsehstationen aus allen Körperregionen übertragen diese Begegnung in die verschiedenen Körperteile. Ich bin sicher, in der Leber, in der Milz, im Zwölffingerdarm und überall sonst sitzt man jetzt vor den Fernsehgeräten und ist genauso gespannt wie hier im Kleinhirnstadion von Everskopp. Besonders freue ich mich, erstmals auch die Zuschauer aus den Kniescheiben und von den Ohrläppchen begrüßen zu können. Gemeinsam hören wir jetzt die Hymnen der beiden Mannschaften. Für den "1. FC Horst, jetzt reiß dich aber mal zusammen": Bau auf, bau auf, bau auf, freie deutsche Jugend bau auf ... Und für den "VFL Boarh, bin ich kaputt": Es gibt kein Bier auf Hawaii, es gibt kein Bier ... Dann tauschen die beiden Mannschaftskapitäne "Dem Tüchtigen gehört die Welt" und "In der Ruhe liegt die Kraft" die Wimpel aus. Das heißt, sie versuchen es, denn der Kapitän des "VfL Boarh, bin ich kaputt" hat seinen Wimpel offensichtlich verschlampt. Nach einer Schweigeminute für den kürzlich aus dem Körperverbund ausgeschiedenen Appendix sowie den unzähligen Opfern der letzten Haarausfallkatastrophe gibt der Schiedsrichter "Wie man´s macht, macht man´s verkehrt" das Spiel frei.

Und der "1. FC Reiß dich mal zusammen" legt gleich mächtig los. Mit einem langen Paß schickt Mittelfeldregisseur "Der frühe Vogel fängt den Wurm" seinen starken Rechtsaußen "Leistung muß sich wieder lohnen" auf die Reise. Der tanzt die Verteidiger "Zu nix richtig Lust" und "Am Liebsten zurück ins Bett" aus, aber dann wird "Leistung muß sich wieder lohnen" jäh vom versierten Libero der Kaputten "Wenn ich so´n Scheiß schon höre" gestoppt. Jetzt sind die Kaputten im Vorwärtsgang: "Wenn ich so´n Scheiß schon höre" auf "Heut is nich mein Tag", "Heut is nich mein Tag" weiter auf "Gestern auch nicht", "Gestern auch nicht" zu "Morgenstund ist ungesund", vorbei an "Laß mal den Abwasch machen", quer zu "Ich komm doch über die Runden", "Ich komm doch über die Runden" dribbelt, täuscht, schießt, und ... - Aber geschmeidig wie eine Raubkatze taucht da "Denk auch mal an Deine Altersvorsorge", der sichere Schlußmann der Zusammenreißer in die untere rechte Ecke und hält den Ball fest in seinen Händen. Ja, nach diesem furiosen Auftakt plätschert das Spiel nun doch mehr und mehr vor sich hin, auch weil der gefährlichste Stürmer der Kaputten "He, laß mal´n Bier trinken gehen" von den beiden Innenverteidigern der Zusammenreißer, "Dann kommste morgen wieder nich aus´m Bett" und "Keine Macht den Drogen", in scharfe Manndeckung genommen wird, und auch sein Pendant auf der Gegenseite, "Is doch ganz schön, wenns mal´n bißchen sauber ist", gegen "Ich finds so gemütlich" keinen Stich macht. Außer einem Platzverweis für "Soviel Licht is gar nicht gut für die Augen", der "Laß mal Fenster putzen" mit einer üblen Blutgrätsche von den Beinen geholt hat, passiert nix mehr, mit 0:0 geht´s in die Pause.

Schauen wir mal in die anderen Körperteile, wie man dort bislang das Spiel verfolgt hat. Wir schalten zu Harry Humpen in der Leber. Harry Humpen, wie ist die Stimmung in der Leber? - Ja, die Stimmung in der Leber ist verhalten. Die Fans sind natürlich enttäuscht, das sich "He, laß mal´n Bier trinken gehen" bislang noch nicht richtig in Szene setzen konnte, aber vielleicht kommt das ja noch. - Danke, Harry Humpen, weiter zu Niko Tien in der Lunge. - Öäähh, die Stimmung in der Lunge ist aufgeheizt. In der verqualmten, stickigen Luft hier erhebt sich jedesmal ein Pfeifkonzert, wenn "Keine Macht den Drogen" nur an den Ball kommt. Hier in der Lunge hat er definitiv nicht viele Freunde. - Danke, Niko Tien. Hier beginnt die zweite Halbzeit. Gibt es Veränderungen in den Mannschaften? Oh ja. "Mal vorankommen jetze", der Trainer der Zusammenreißer bringt jetzt seinen neuen Superstar. Für den angeschlagenen "Laß mal Fenster putzen" kommt der neu eingekaufte Wunderstürmer "Frauen mögen erfolgreiche Männer". Ein Raunen geht hier durch das Rund der 2,5 Milliarden Gehirnzellen auf den Rängen. Die zweite Halbzeit beginnt, und gleich stürmt "Frauen mögen erfolgreiche Männer" auf das Tor der Kaputten zu. Wie nix spielt er die gesamte Abwehr der Kaputten aus. Schuß und ... - knapp vorbei. Aber, da fehlte nicht viel. "Morgen ist auch noch´n Tag", der Trainer der Kaputten, muß sich dringend was einfallen lassen, und da reagiert er auch schon. Ja, er bringt: "Aber erfolglose Männer haben dafür mehr Zeit". Hat es der alte Trainerfuchs doch wieder geschafft.

Die reguläre Spielzeit ist vorbei, immer noch 0:0. Jetzt entscheidet das Golden Goal, und - Tooooor!!! Tor! Tor! Tor! Mit einem Gewaltschuß, direkt vom Anstoßpunkt weg, erzielt "He, laß mal´n Bier trinken gehen" das spielentscheidende 1:0. Ein Glücksschuß, gewiß, aber er sichert den Kaputten erneut den Titel. 2,5 Milliarden Hirnzellen hier im Stadion singen die Hymne der Kaputten: Es gibt kein Bier auf Hawaii, der Everssche Körper setzt sich in Bewegung Richtung Kneipe, und auch in der Leber ist der Jubel natürlich riesengroß. Die Kaputten haben es wieder geschafft. Es sieht aus, als sei der "VfL Boarh, bin ich kaputt" hier in Everskopp einfach nicht zu schlagen.

Vorabdruck aus der in Kürze erscheinenden Nr. 24 der Zeitschrift "Salbader - Belehrung und Erbauung".

© scheinschlag 2000
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