Ausgabe 01 - 1999berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Hei, ein Sonnenstrahl?

Da springt das Frühlings-Ich putzmunter aus den Federn. Maulig wortspielt Winter-Ich: "Frühjahrsputzmunter." Und: "Synthetikfedern, allergikerfreundlich. Und jetzt wird auch noch gelüftet, als gäb´s kein Morgen. Uäh!" Doch das Frühlings-Ich reckt sich schon längst unter der Wohlfühlbrause. Heiß, kalt, heiß, kalt. Es rubbelt seine Haare trocken, bis zwischen den Augen Prilblumen prachtvolle Pirouetten drehen. Tür zu, Schlüssel zweimal rechtsrum, und ab!

Halt, alles zurück. Treppen wieder hoch, Schlüssel zweimal linksrum.

"Hey, Winter-Ich, aufstehn, mitkommen!" "Ich will nicht!" "Doch!" "Nein." "Doch!" "Nein, ich will noch schlafen. Bis es wieder dunkel ist. Und dann guck ich erst mal nach, was es im Internet so Neues gibt." "Du warst bis heut morgen um sechs in deinem doofen Internet." "Eben."

Aber, ach, das arme Winter-Ich, es kann ja gar nicht richtig schlafen, es klickt sich nur von einem Link zum nächsten: Oh, da wird ein libidinöser Traum aufgebaut. Über 18? Bin ich, laßt mich rein! Klick. Bild wird geladen. Ein Mann mit einem grauen Bart: "Möchten Sie diesen Traum zu Ende träumen? Dann schicken Sie uns mit Elektropost bitte tausend Mark in kleinen Scheinen."

So, genug geträumt! Frühlings-Ich reißt Winter-Ich im Überschwang die Decke weg. Unschuldig und blaß wie Schnee liegt es da, Frostbeulen an der Seele, die weichen Streichelhände in kratzigen Filzhandschuhen.

"Mitkommen!" Na also, wer sagt´s denn. Hallo, U-Bahn!

Mürrisch glotzt das Winter-Ich. Mürrisch glotzen zwanzig andre Winter-Ichs zurück. Das Frühlings-Ich schwebt lächelnd durch den Gang, verteilt Vanille-Wunderbäumchen und schenkt Pfefferminztee aus, mit Zucker und Zitrone. Peinlich berührt versinken zwanzig Finsterlinge in ihren Bier- und Coladosen.

Ein Kind klettert auf den Klappsitz und singt: "Schön ist es, auf der Welt zu sein." Wie wird der Waggon auf diese Provokation reagieren? "Du und ich, wir zwei allein."

"Kind, du hast was vergessen", murmelt das Winter-Ich: "Sagt die Biene zu dem Stachelschwein. Hast du vielleicht Stacheln? Oder wenigstens einen einzigen Stachel, so wie die Biene? Nur mit Stachel ist es schön, auf der Welt zu sein. Nein, dein Piephahn gilt nicht als Stachel. Mann, pack den bloß wieder ein. Ja, das ist eine lange U-Bahnlinie, mit der kann man lange fahren. Von Wittenau bis Hermannstraße. Weißt du, kleiner Hosenscheißer, wie lange man von Glasgow bis nach Istanbul fährt? 66 Stunden. Das ist zweimal Schlafen gehen. Woher ich das weiß? Wewewe, bahn, d, e. Ja, wenn du mal groß bist, dann mußt du nicht mehr in dieser vanillestinkenden U-Bahn so dämliche Lieder singen und dazu Pfefferminz trinken. Dann kannst du die ganze Nacht Abenteuer erleben, ohne dich zu bewegen. Und wenn du willst, kannst du dabei sogar Bier trinken." So spricht das Winter-Ich.

Doch das letzte Wort gebührt, der Zukunft zugewandt, dem Frühlings-Ich: "So, Kleiner, wir sind jetzt am Alex. Komm mal mit, dann zeig ich dir, wie schön die Welt ist. Guck, da geht´s zum WC-Center. Da pullert sich´s doch gleich viel schöner, nicht? Und, ei, guck mal da: ein Kontaktmobil! Grün und weiß. Laß mal reingucken."

Eine erdfarbene Gestalt hockt kauert im Bullen-Bulli und seufzt: "Wir werden alle sterben." Das Herbst-Ich. Bloß gut, daß das verhaftet ist. bov.bjerg@prenzl.net

Hans Duschke dazu: Das Sommer-Ich? Das ist schon in Urlaub: http://users. iconz.co.nz/pitcairn

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