Ausgabe 20 - 1998berliner stadtzeitung
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Gute Stube Unter den Linden

Magyar nagykövetség: Müemlékvédelem? - Mindegy!

Der Angriff auf die Nachkriegsmoderne hat sein nächstes Opfer gefunden: Die ungarische Botschaft Unter den Linden 74/76/Ecke Wilhelmstraße wird abgerissen. Daß das Botschaftsgebäude unter Denkmalschutz steht, scheint dabei kaum jemanden zu stören. Die Abbruchgenehmigung ist bereits erteilt. Stadtentwicklungsstaatssekretär Hans Stimmann hat als politischer Dienstherr der Denkmalpflege den Bezirk Mitte angewiesen, dem Abrißantrag "denkmalrechtlich stattzugeben". Der Pressesprecher der ungarischen Botschaft kündigte an, daß die Abbrucharbeiten noch in diesem Jahr begonnen werden sollen.

Das Gebäude der ungarischen Botschaft wurde 1966 von den Architekten Endre Koltai und Laszlo Kavácy gebaut. Die sechsgeschossige Stahlskelettkonstruktion mit vorgehängter Glas-Aluminium-Fassade gilt als eine der bedeutendsten Leistungen der Sechziger-Jahre-Moderne in der DDR. In seiner Maßstäblichkeit ordnet sich der Bau in die historischen Proportionen des Straßenraums Unter den Linden ein. Die ungarische Botschaft tritt damit in bewußten Gegensatz zur schräg gegenüberliegenden sowjetischen Botschaft, die 1949 bis 1951 im stalinistischen Stil erbaut wurde und die Gebäudehöhen und Fluchtlinien des Straßenensembles ignoriert. Zur historisierenden Außengestaltung der sowjetischen Vertretung bildet das ungarische Botschaftsgebäude mit seiner betont modernen, nüchternen und funktionellen Fassade einen Gegenpol.

Das legitime Ansinnen der Republik Ungarn, ein neues Botschaftsgebäude zu bauen, wurde von der Stuckfraktion in den zuständigen Senatsverwaltungen nur allzu freudig begrüßt. Es hieß, man habe die Ungarn nicht davon überzeugen können, den Denkmalschutz zu beachten. Wahrscheinlich haben die Senatsvertreter das nicht einmal versucht.

Vom geplanten Neubau ist bisher nur bekannt, daß er sich am kriegszerstörten Vorgängerbau von 1906 orientiert. Die Anweisung zum Abriß eines intakten Denkmals, um es durch einen Kaiserzeit-Nachbau zu ersetzen, wie sie von Hans Stimmann ergangen ist, offenbart ein ausgesprochen seltsames Verständnis von Denkmalpflege.

Man braucht keine Verschwörungstheorien zu bemühen, um im Abriß der ungarischen Botschaft einen weiteren Schritt innerhalb einer großangelegten Attacke auf die Architektur und den Städtebau der sechziger Jahre zu erkennen. Besonders im Osten stehen die Bauten dieser Phase unter dem Dauerbeschuß der immer gleichen "Plattenbau-Charme"-Diffamierungen. Dieter Hoffmann-Axthelm, Mitverfasser des Planwerks Innenstadt, nannte die Moderne "das katastrophale Stadtmassaker" und lieferte damit eine Rechtfertigung zum Gegenschlag.

Die prominentesten Opfer sind bisher das Außenministerium, das Lindencorso und das Berolina-Hotel. Das ehemalige SED-Gästehaus am Märkischen Ufer steht seit kurzem auch auf dieser Liste. Die Aufzählung droht in nächster Zeit noch viel länger zu werden: Der Palast der Republik, das "Ahornblatt" auf der Fischerinsel und das Hotel Unter den Linden sind akut gefährdet, weiterhin stehen die polnische Botschaft, das Funktionsgebäude der Komischen Oper, das Palast-Hotel, das ehemalige Bauministerium und ein Großteil der Alexanderplatz-Bebauung zur Disposition. Wie der Fall des Schimmelpfeng-Hauses am Breitscheidplatz zeigt, macht die Abrißwut nicht einmal vor dem Westen halt.

Besonders an der Möchtegern-Prachtstraße Unter den Linden sind den "kritischen Rekonstrukteuren" die Bauten aus den sechziger Jahren ein Dorn im Auge. In direkter Nachbarschaft zur "guten Stube" Pariser Platz, wo man es sich gerade so richtig schön gemütlich-rustikal einrichtet, soll der Flaneur nicht durch solch profane Gebäude wie die ungarische Botschaft aus seinen nostalgischen Träumen gerissen werden.

Eine historisierende Neugestaltung der Linden zu einem "repräsentativen, hauptstädtischen" Boulevard ist dabei auf fatale Weise unhistorisch. Es wird nicht nur die Nachkriegszeit aus dem Stadtbild getilgt. Durch die Inszenierung einer "guten alten Zeit" wird versucht, darüber hinwegzutäuschen, daß diese Straße 1945 fast völlig in Schutt und Asche lag.

Jens Sethmann

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