Ausgabe 20 - 1998berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Berlin 1898

22.Oktober bis 4.November

Ein Kanarienvogel spielt die Hauptrolle in einer Verhandlung am 22. Oktober vor der fünften Strafkammer des Landgerichts I. Am 6. Juli war dem Schlosser Voigt aus seiner Wohnung in der Bergstraße der Piepmatz entflogen, mit dessen Zähmung er sich große Mühe gegeben hatte. Am nächsten Tag entdeckte Voigt den Flüchtling auf dem Dach des benachbarten Hauses. Als er die Dachluke öffnete, flog der Vogel durch das offenstehende Fenster in die Wohnung des Steindruckers Billing davon. Als Voigt von diesem die Herausgabe des Vogels verlangte, weigerte sich Billing. Voigt sei nicht in der Lage, sich als rechtmäßiger Besitzer auszuweisen.

Voigt ging zur Polizei. Billing erhielt eine Anklage wegen Fundunterschlagung und wurde deshalb vom Schöffengericht zu einer Geldstrafe verurteilt. Doch jetzt in der Berufungsstrafkammer tritt der Verteidiger Dr. Werthaner einen umfangreichen Entlastungsbeweis an. Der umstrittene Vogel sitzt in einem Bauer auf dem Zeugentisch und macht einen verkümmterten Eindruck. Ab und zu lässt er ein melancholisches "Piep" ertönen.

Voigt bestreitet entschieden, dass dies der von ihm mit großer Sorgfalt gezähmte Kanarienvogel und kunstvolle Sänger sei. Der Angeklagte müsse ihn umgetauscht haben. Doch mehrere Zeugen behaupten das Gegenteil, eine Aufklärung ist nicht zu erzielen. Der Gerichtshof erkennt deshalb auf Freisprechung. Der Vorsitzende, Landgerichtsdirektor Franke, betont dabei, dass die Unterlassung der Fundanzeige bei einem so geringen Objekt nicht ins Gewicht falle. Nach dem neuen Bürgerlichen Gesetzbuch brauchen Funde unter drei Mark Wert überhaupt nicht mehr angemeldet zu werden. Der befiederte Zeuge verabschiedete sich mit einem dreimaligen "Piep!"

Spreepiraten treiben in der Nacht zum 23. Oktober beim Müggelschlösschen gegenüber Friedrichshagen ihr Unwesen. Hier liegt die Yacht "Humor", die dem Mitglied des Yachtklubs "Müggelsee", Herrn Micker gehört, am Clubhaus vor Anker. Kürzlich hat der Bootsmann, der sie bisher bewohnte, die Yacht verlassen. Einbrecher entfernen den zum Müggelschlösschen gehörenden Kahn mit Gewalt von seinem Standplatz und fahren damit zur Yacht. Von dieser erbeuten sie Wertsachen, wie eine goldene Uhr mit Kette, neue Kleidungsstücke, Schuhzeug usw. Dann setzen sie wieder nach Friedrichshagen über und entkommen.

Den Rekruten der vielen in der Nähe des Kreuzberges liegenden Regimenter wird die Stadt Berlin gezeigt, aber nur aus der Ferne. Die jungen Mannschaften werden abteilungsweise während der Zeit von 2 bis 4 Uhr nachmittags im Exerzieranzug zum Viktoriapark geführt, damit sie von der Plattform des Nationaldenkmals aus einen Blick auf die große Stadt werfen können, die sie nicht betreten dürfen.

Die Hauptverhandlung des Prozesses Hartert findet am 26. Oktober 9 Uhr 30 vor der I. Strafkammer des Landgerichts I zur Hälfte unter Auschluss der Öffentlichkeit statt. Die geschiedene Heiratsvermittlerin Elisabeth Hartert ist seit dem 14. März in Untersuchungshaft und wird beschuldigt, ihre luxuriös eingerichteten Wohnungen in der Magdeburger Straße und am Magdeburger Platz zu Stätten der Unzucht und wüster Orgien gemacht zu haben. Sie ist nicht nur wegen Kuppelei sondern auch wegen Betruges und Wuchers angeklagt. Sie stammt aus einfachen Verhältnissen und hat sich vor 12 Jahren mit dem Ingenieur Hartert verheiratet, sich von diesem jedoch wieder scheiden lassen.

Vor einigen Jahren ist sie nach Berlin gekommen und gab sich hier einem unsittlichen Lebenswandel hin. Ihre "Salons" wurden zum Sammelpunkt eines Kreises von Lebemännern, die sich hier mit Vertreterinnen des schönen Geschlechts zu Gesellschaften, Tanzfesten und dergleichen vereinigten. Trotz ihrer geringen Bildung gab sie sich als vornehme Dame, Tochter eines Sanitätsrats aus. Ihre Haupterwerbsquelle war die Vermittlung von Hochzeiten, besonders zwischen verschuldeten Adligen und reichen Bürgerlichen. Für das Zustandekommen ließ sie sich erhebliche Provisionen zahlen. Daneben gab sie jungen Leuten und noch im Dienst befindlichen Offizieren, die sich in Geldverlegeneheit befanden, Darlehen gegen Schuldscheine und Wechsel oder verbürgte sich oder beschaffte andere Bürgen. Dabei soll sie sich wucherische Vermögensvorteile verschafft haben.

Maximilian Harden, der Herausgeber der Zukunft, muss sich am 28. Oktober der Anklage wegen Majestätsbeleidigung vor der 1. Strafkammer des Landgerichts I verantworten. Den Vorsitz in der Verhandlung führt Landgerichtsdirektor Dr. Felisch.

Ein neues Pflaster erhält das Hallesche Ufer von der Großbeeren- bis zur Königgrätzer Straße. Der Fahrdamm wird nämlich mit Zement gepflastert, einem Material, das an Festigkeit unübertroffen dastehen soll. Der ausgeschachtete Boden wird zunächst mit einer starken Schickt kleiner Feldsteine bedeckt, die mit Kies überschüttet werden. Auf dieser Unterlage wird dann das neue Pflaster gelegt, das aus kleinen Zementsteinen besteht, die wiederum mit feuchtem Zement übergossen und dann mit eisernen Rammen zu einer festen Masse zusammengestampft werden. Die so entstandene Decke ähnelt dem Asphalt, doch ist sie nicht so glatt wie diese und sollt den Asphalt an Härte ganz bedeutend übertreffen.

Falko Hennig

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