Ausgabe 19 - 1998berliner stadtzeitung
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Das ist doch eine tote Straße hier!

Es liegt im Prinzip der Marktwirtschaft begründet und erscheint so auch ganz richtig: Läden machen auf und machen zu. Das könnte eigentlich gleichgültig sein, denn letzlich sollen nur alle mit allem versorgt sein. Angebot und Nachfrage werden das regeln. Dann aber bedrückt es doch, wenn an den Geschäften, bei den Nachbarn, plötzlich grell-orange Schilder prangen: "Wegen Geschäftsaufgabe Ausverkauf." Oder einfach die Erklärung: "Alles muß raus!" Mag sein, daß nur diese leichte Trauer einem vorgaukelt, daß zur Zeit besonders viele Läden solche finalen Bekanntmachungen in ihre Schaufenster hängen. In der Greifswalder Straße aber kann man auch ans Gegenteil glauben.

Auf ihrem kurzen, doch prägenden Abschnitt zwischen der Straße Am Friedrichshain und der Kreuzung Danziger Straße sammelt man schnell eine lange Liste solcher Läden. In Haus 194 gab der "Bettenprofi" auf und rät seinen "Werten Kunden, angezahlte Ware bis 2.10. in der Filiale Kantstraße abzuholen." In Haus 198 schließt derzeit die Drogerie, in der 197 ist es nach dem Umzug des "Zauberladens" leer geblieben. In 204 gibt es keine Eisbecher ab 3 Mark mehr, in 217 und 218 sind die Kurzwaren und Conny aus ihrem Container ausgezogen, auch in 220 sucht der Makler einen neuen Mieter. Neben dem Knaack-Club in der 221 hat der Piercing-Laden nicht überlebt, in der 227 schützte das dicke Gitter zuletzt nur noch zu Silvester ein paar Knaller. Auf der anderen Seite in Haus 7 fehlt demnächst eine Boutique, in Nr. 11 sind ein Fleisch- und Feinkostladen und nebenan auch der "Gold-Party-Service" schon leer, obwohl ein Schild noch immer "Frühstück ab 8 Uhr" verspricht. Auch in der 37 ist das Geschäft nun verwaist, und in der 33 wirft "Schuh-Reich" seine letzte Ware unter die Leute.

Ob das noch Zeichen jener vielzitierten "Marktanpassungen" sind, davon haben die betroffenen Ladeninhaber sicher einen sehr subjektiven Eindruck. Ob ihre Beschreibungen immer stimmen, ist nicht klar. Aber ihre Erfahrungen und Schlußfolgerungen entscheiden Berlins Lage mit: ein wichtiger Teil dessen, was auf Neudeutsch "Wirtschaftsklima" heißt. Deshalb dazu zweizweihalbe Fallbeispiele.

Alles Markenware

In ihrer schmalen Boutique in Haus 7 verkauft Frau Hiry ihre Pullover statt zu 189 Mark jetzt für 89 Mark, die für 89 zu 49. Das ist immer noch nicht nach Jedermannes Geldbeutel, dafür gibt es die Nachthemden jetzt für 20 Mark. "Alles Markenware", sagt sie, "nicht aus China". Doch als Lockmittel hat das nicht gewirkt. Manchmal, sagt Frau Hiry, hat sie 20 oder 30 Mark Umsatz am Tag. Seit 1994 ging es nur noch bergab, und schon vor einem Jahr entschloß sie sich, endgültig aufzuhören. Da logierte sie noch auf der Schönhauser Allee am U-Bahnhof Eberswalder Straße, wie schon seit 25 Jahren. Da leitete sie zuerst die Konsum-Verkaufsstelle und hatte dann weitergemacht. Jetzt hat sie schon lange Verluste und lebt von ihrem Mann. Um die Ware noch loszuwerden, zog sie in das Lädchen an der Greifswalder, nach fast einem Jahr aber ist die Ware immer noch da.

"Die Leute haben einfach kein Geld für mehr als Essen und Trinken", glaubt sie und erklärt gleich kategorisch. "Ich lasse kein gutes Haar an der gegenwärtigen Gesellschaft. Die hat einfach kein gutes Haar". Weil alle, die Banken wie das Finanzamt, es einem nur schwieriger machten. "Sobald man den Kredit mal einen Monat nicht bezahlen kann, ist gleich Schluß." Und weil die Jugend ohne Chancen sei, auch ihr Sohn nach dem Technikstudium trotz Bestnoten nichts fand, immer wieder hörte, daß Alter und Leistung stimmten, aber die Berufserfahrung fehle. "Die zu vermitteln, war keiner bereit, und die Alten müssen rackern bis 65", sagt sie. Frau Hiry ist jetzt 52, "zur Rente habe ich dann 50 Jahre gearbeitet". Der Sohn ging schließlich zur Polizei, "das gefällt ihm, da verdient er gut und es ist sicher. "Aber dafür hält er ja auch jeden Tag seinen Kopf hin gegen die Kanacken." Sie meint´s nicht böse, nur das Wort ist halt in ihrem Wortschatz drin. Und als zwei Bosnier oder Türken vor der Tür stehenbleiben, eilt sie hinaus: "Das kommt auch noch hinzu."

Später kommen zwei bosnische Frauen hinein, kaufen BHs. Macht 18 Mark, das ist zuviel, sie legen einen wieder weg. Fragen nach einem schönen Kleid. 200 Mark. Da lacht die Ältere enttäuscht: "320 Mark ist meine Sozialhilfe." "Müssen Sie sparen", rät die Inhaberin mitleidlos und fügt dann hinzu: "Die kaufen immer mal eine Kleinigkeit, wohnen hier im Hinterhaus, alles voll. Sie sitzen auf dem Hof und sonnen sich die Beine. Und da soll ich noch lachen?" Sie lacht nicht, fühlt sich eher verfolgt. Von den Großen, die sich immer mehr vereinigen und keinen Platz lassen für die Kleinen. Doch verkauft sie nicht vielleicht einfach das Falsche, zu Teure? "Hier ist völlig egal, was ich verkaufe", ist sie überzeugt. "Das Schlimmste ist doch, das heute jeder macht, was er will. Erhöhen die Miete, die Versicherung... Aber es muß auch Grenzen geben. Ohne Ordnung geht es nicht." Eigentlich, findet sie, sei es heute wie früher. Man müsse sich auch ducken und anpassen. "Und so schlimm war es ja nicht, das bißchen Diktatur. Ich war nie in der Partei und hab so oft gesagt: was ihr macht, ist Scheiße. Hat mir keiner was getan. Der Sozialismus war besser, da habe ich gearbeitet und mein Geld gekriegt." Jetzt wird sie wieder irgendwo arbeiten gehen, als Verkäuferin, denkt sie. Deswegen ist sie eigentlich nicht verzweifelt.

Werkstatt oder Designatelier?

Auch der Meister in der alten, ölgestrichenen Souterrain-Polstereiwerkstatt von Wolfgang Preuschoff ist das nicht. Eher ist er verärgert. Bis 2001 hat man noch eine Galgenfrist, gilt noch der DDR-Mietvertrag. Doch "wenn sogar Connys Container hier ausziehen muß..." Die hatten denselben Vermieter, und der will auch von der Polsterei das Doppelte. "Was soll das? Wir brauchen eine Werkstatt und kein Designer-Atelier!" Daran, daß der Vermieter wegen mangelnder Nachfrage nachgibt, glaubt er nicht. "Solange die bei den Gewerbemieten nehmen können, was sie wollen... Die machen das Rückgrat der Nation kaputt, den Mittelstand, die Kleinen", sagt er. Man spürt den Stolz hindurch, zu diesem Rückgrat zu gehören. Mit einem Lehrling sorgt die Werkstatt auch schon für das Künftige. Aber die Zusammenfassung klingt doch ratlos: "Ich weiß nicht, wie die sich das vorstellen?"

Wegen Aufgabe 50% weniger

In der Drogerie Greifswalder 198 kostet jetzt "wegen Geschäftsaufgabe" alles 20, gar 50 Prozent weniger: jedes Schnäppchen ein Stück vom Ende der Inhaber Stein. Unter den letzten Deosprays, Sonnenmilchs und Mückenschutz sind unerwartet viele Ostprodukte, Kernseife aus Risa, Räucherkerzchen aus dem Erzgebirge, EgGü-Schuhpaste, und Pepsinwein. "Der Kümmerling des kleinen Mannes", so Stein.

Warum er aufhört, will er nicht sagen. "Der Vermieter hat mir geholfen, da wäre es nicht fair." Über die DDR-Waren fängt er doch an zu erzählen, weil "die doch oft gar nicht schlechter sind." Schließlich fährt auch das andere aus ihm heraus. Eine tote Straße sei das hier! "Hier wird das nichts mehr, es werden irgendwann nur noch Banken und Dönerbuden hier sein. All diese neuen, teuren Boutiquen, die machen genauso schnell wieder zu."

Irgendwann, so glaubt Stein, wird man für Klopapier gezwungen sein, in die große Kaisers-Halle zu gehen oder gleich ins A 10-Center auf der grünen Wiese. "Noch hat die Bevölkerung die Auswahl. Aber die Kiezstrukturen gehen immer weiter kaputt. Und wenn dann auch noch die Outlet-Läden aufmachen und selbst Sachen höherer Qualität billig werden, geht dann alles andere ein. Da kann doch kein Händler mithalten."

Die Bevölkerung um die Greifswalder habe sich völlig verändert. Die mit mehr Geld seien in den Speckgürtel gezogen, "denen ist das hier zu dreckig". Stein meint, daß die Leute weniger Geld haben als 91/92. "Schauen Sie sich doch um! Auf die offiziellen Arbeitslosenzahlen muß man doch mindestens ein oder zwei Millionen draufschlagen, die mit ABM ein halbes Jahr durchgeschleift werden."

Zumachen wollte er schon vor einem Jahr, kam aber aus seinem langfristigen Mietvertrag nicht heraus. "Da habe ich mich mit dem Vermieter so halb im Guten, halb im Bösen geeinigt." Einen Neuanfang plant er nicht. Noch drei Jahre bis zur Rente, dann will er nach Griechenland. Nicht nur wegen der Menschen, "auch wegen der, wie man so sagt, Lebensqualität." Bis dahin will er sich "so durchjobben".

In Sichtweite von Stein geht derweil bei Reichs Schuhladen die Ware zum halben Preis schnell weg. Die Verkäuferinnen, die die Überreste verkaufen, wieseln seltsam frohgemut zwischen den sich leerenden Regalen herum. "Bis Ende der Woche werden wir wohl noch zu tun haben, dann ist es leer", geben sie bereitwillig Auskunft. Wieso mußten sie schließen? "Wir schließen? Ach i wo. Wir machen doch erst auf! Wir sind schon die Verkäuferinnen von der neuen Firma, die das hier übernimmt." Warum Reich zumachte, wissen sie nicht. Es kümmert sie auch nicht. Wieder will es einer probieren.

Stefan Melle

© scheinschlag 2000
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