Ausgabe 19 - 1998berliner stadtzeitung
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Politik-Pixel-Park

Viel war vor der Kanzlerabstimmung die Rede vom Internet als stimmenfängerisch hochwirksame Plattform. www.guido-westerwelle.de im onlinechat, www.joschka.de berühmt und gelobt für die beste Internetadresse. Der www.bundeskanzler.de ebenfalls mit dabei. Selbst Claudia Nolte soll angeblich eine eigene Homepage haben. Doch was ist nach dem Wechsel geblieben von den PolitikerInnen in Bits und Bytes gegossen? Ein Ausflug in das politische world wide web am Montag danach. Wie es sich gehört zu allererst ein Blick zum Verlierer. Die www.cdu.de erkennt am Montag nach dem Fiasko das Elend nicht nur der Partei, sondern auch der eigenen Homepage. Allerdings erst am späten Abend. Bis genau 22.09 Uhr Montag Abend ist es immer noch möglich, die www.weltklasse.org für Deutschland unter einer eigenen homepage durch einen Link direkt zu erreichen. Dort kann der noch Unentschiedene Gründe finden, warum der Kanzler Kanzler bleiben muß. Unter News gibt es schlagende Argumente. So mußte 1960 für 1 kg Schweinekotelett genau 2 Stunden, 37 Minuten gearbeitet werden, während Kohl sei Dank die Zeit bis 1997 auf 37 Minuten für die gleiche Menge wohlschmeckender Speise gesunken ist. Die späte Streichung der Weltklasse-Homepage hatte auch zur Folge, daß ein geneigter Schreiberling aus den USA seine persönliche Meinung zur Wahl dort noch unbemerkt verbreiten konnte: "Deutschland braucht jedoch keinen Goebbels?!" Der immer noch Noch-Kanzler wohlgemerkt war gemeint. Um 22.09 Uhr und genau dreißig Sekunden war das Dilemma vorbei. Der unsaubere Link gestrichen und die Weste wieder rein, selbst die blühenden Landschaften wurden von der Oberfläche getilgt. Der Leser dieser Kolumne wird jedoch dazu aufgerufen, unter oben genannter Weltklasse-Adresse nachzuschauen, ob die Weltklasse vielleicht noch eine Weile als Datenmüll auf Recycling wartet.

Gerhard Schröder und seine www.spd.de begrüßen die Internetgemeinde mit fiesem Lächeln und einem herzlichen "Danke! Meine Damen und Herren, liebe Freundinnen, liebe Freunde, nach 16 Jahren..." Unter Wahlkampfstudio mutet die SPD einem zu, die tausendfach über die Kanäle gegangenen Fernsehbilder des vergangenen Tages in unscharfer Ausführung betrachten zu müssen. Auf jeder anderen Seite ist irgendwo ein Schröderlein versteckt. Trotz durchzechter Nacht haben Schröders Helfer fleißig online gearbeitet.

Auf Schröders eigener www.schroeder98.de-Seite ist dagegen die Zeit am Sonntag um 21.52 Uhr stehen geblieben. Die letzte Meldung: "...hat Helmut Kohl auch sein Direktmandat im Wahlkreis Ludwigshafen verloren." zeigt verständliche hämische Freude, doch Gysi und sein www.sozialisten.de-Trupp üben sich gekonnter mit einem prosaischen Dreizeiler. "Kohl ist weg! Wir sind drin. 5,1 Prozent." Und auf der Seite von Petra Pau steht zu diesem Zeitpunkt im bravem Stil einer Unterstufenlehrerin für Deutsch und Kunsterziehung ein kurzer Aufsatz über die Geschehnisse des vergangenen Tages geschrieben, der Objektivität durch die konsequente Benutzung der dritten Person vermitteln will. Schön wäre es, wenn jene Homepage auch in Zukunft diesen Stil polytechnischer Oberschulwandzeitung beibehalten könnte.

Das rechte Nazivolk dieser Bundestagswahlen schläft schon wieder. Die letzte aktuelle Meldung der DVU ist auf den 24.09. datiert, und die NPD-Braunpage zeigt nur noch "Error - File not found!" Das gleiche Schicksal ereilte Claudia Nolte. Auch Homepages sind der Göttin sei dank sterblich.

Steffen Pachali

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  Ausgabe 19 - 1998