Ausgabe 14 - 1998berliner stadtzeitung
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Berlin 1898

16. Juli bis 12. August

Der Verein der Störungssucher ist die neueste Blüte des Berliner Vereinslebens. Die Störungssucher sind allerdings nicht Leute, die Störungen und Zwietracht unter ihren Mitmenschen stiften wollen, sondern Angestellte der Fernsprechverwaltung. Ihre Aufgabe ist es, Störungen im Betreib der Fernsprechleitungen aufzuspüren. Die Störungssucher der Oberpostdirektion Berlin, deren Zahl etwa ein Dutzend beträgt, haben sich nun zusammengetan um gemeinsam ihre Interessen zu wahren.

In wahnsinnigstem Tempo überholt ein Radfahrer einen Omibus der Linie Heinrichsplatz - Nettelbeckplatz. Er gerät in die Schienen, stürzt und fällt unter die Räder des Omnibus. Das Hinterrad des schweren Fahrzeugs fährt dem leichtsinnigen Radfahrer über die Brust, wodurch er augenblicklich stirbt.

Das erste öffentliche Motorfuhrwesen eröffnet die Allgemeine Motorwagen-Gesellschaft unter Leitung von Oberbaurat Klose. Der Gesellschaft stehen jetzt zwei Viktoria-Wagen, zwei Selbstfahrer, ein Lastwagen und sechs Motorräder zur Verfügung.

Die Flucht einer Wahnsinnigen erregt am Vormittag des 19. Juli auf dem Alexanderplatz großes Aufsehen. Die Dame will sich an einer Rouleau-Schnur aus dem Fenster des ersten Stockwerks eines Hauses der Alten Schützenstraße herablassen. Die Schnur reißt natürlich, und sie stürzt aufs Pflaster. Sie rennt nun, von einer anwachsenden Menge verfolgt, umher, bis sie endlich ergriffen und trotz ihrer Gegenwehr in ihre Wohnung zurückgebracht wird.

Die erste Kandidatin zum Doktorexamen an der Berliner Universität ist Fräulein Neumann, eine Berlinerin und Tochter eines Rentiers und Hausbesitzers in der Potsdamer Straße. Sie studierte ausschließlich in Berlin und widmete sich dabei acht Semester den Naturwissenschaften und besonders der Physik. Der Fall dieser Kandidatin liegt besonders schwierig, verfügte sie zwar über ausreichende Vorbildung, doch nicht über das Abiturzeugnis. Die Frage ist nun, ob die wissenschaftliche Arbeit der Dame die philosophische Fakultät einen Dispers beführworten lässt. Dieser Dispers müsste dann vom Minister erteilt werden. Normalerweise entschließt sich die Fakultät zu einer solchen Beführwortung nur bei einer beachtenswerten wissenschaftlichen Leistung. Erst bei erteiltem Dispers kann die Doktorprüfung fortgesetzt werden.

Die Berliner Markthallen feiern in diesem Jahr ihr 30jähriges Jubiläum. Es war der deutsche Eisenbahnkönig Dr. Strousberg, der die Errichtung der ersten Berliner Markthalle anregte, die von 1865 bis 1868 zwischen Schiffbauerdamm und Karlstraße gebaut wurde. Doch gerade diese Halle genoss nie die Gunst des Publikums. So waren die Besitzer froh, sie 1874 loszuwerden. Damals brauchte der Cirkus Renz eine neue Zuflucht, da der alte Cirkus für die spätere Stadtbahn verkauft werden musste. So kaufte der Direktor Ernst Renz die erste Berliner Markthalle, um sie zum Cirkus einzurichten.

Trotz des Misserfolgs dieser ersten Halle beabsichtigte ein Konsortium, an zwölf verschiedenen Punkten der Reichshauptstadt öffentliche Markthallen zu errichten. Doch lehnten die Behörden eine Genehmigung ab. Erst am 14. Februar 1881, kurz nach der Eröffnung des Central-Viehhofes, wurde darüber beraten, wie die Stadtbahn für die Lebensmittelversorgung zu nutzen wäre. Die Stadtbahn war also die Mutter der Markthallen.

Aber nur eine Markthalle steht in Verbindung mit der Stadtbahn, das ist die Alexanderhalle. Ihr Bau begann im Juli 1883 und am 3. Mai 1886 wurde sie eröffnet. Trotz einiger Mängel, die Stände sind sehr klein, die Gänge dazwischen zu eng, erfüllte sie ihren Zweck und gewann die Gunst der Hausfrauen und der Verkäufer. Die schlechten Verhältnisse sind schuld, wenn gerade in jüngster Zeit viele Verkäufer die hohe Standmiete nicht mehr aufbringen konnten.

Von der Alexanderhalle wird behauptet, dass sie die billigste sei. Sie bildet ein mächtiges Rechteck, 117 Meter lang, 99,15 Meter breit, mit einer Grundfläche von rund 11600 Quadratmetern und einer Galerie, die 4300 Quadratmeter nutzbare Fläche hat. Die Halle steht mit dem Stadtbahn-Gleis in direkter Verbindung, und ihre beiden Entladebühnen gestatten die gleichzeitige Aufstellung von 60 Achsen.

Von 6880000 kg im Jahr 1887/88 stieg der Verkehr auf 53770000 kg im Jahr 1893/94. Deshalb musste man eine besondere Halle für den Großhandel anlegen, die am 1. Juli 1893 in Benutzung genommen wurde. Diese Halle bedeckt einen Flächenraum von 9200 Quadratmetern. Beide Hallen haben zusammen 9640000 Mark gekostet.

Gleichzeitig mit der Alexanderhalle wurden am 3. Mai 1886 die Hallen II, III und IV dem Verkehr übergeben, die Lindenhalle, die Zimmerhalle und die Halle an der Dorotheenstraße, deren Baukosten zusammen 7 458 000 Mark betrugen. Allmählich folgten die anderen 10 Markthallen: im Jahr 1888 die Hallen in der Invaliden- und Ackerstraße, Nummer VI, auf dem Grundstück Luckauer Straße und Luisenufer, Nummer VII, in der Andreasstraße, Nummer VIII, und auf dem Magdeburger Platz, Nummer V, die zusammen 4 687 900 Mark kosteten.

1891/92 wurden eröffnet: die Hallen IX in der Eisenbahnstraße, X am Arminiusplatz, XI auf dem Marheinekeplatz, XII auf dem Gesundbrunnen, XIII in der Wörther Straße und XIV in der Reinickendorfer Straße, deren Baukosten sich auf 7206300 Mark beliefen. Alle Hallen zusammen haben 28992200 Mark gekostet.

Falko Hennig

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