Ausgabe 09 - 1998berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Der Mai ist gekommen

Hubschrauber am Himmel, wie kleine Nervensägen zerrattern sie den sonnigen Tag. Kaum sind sie außer Sichtweite, überfliegen Staffeln von Flugzeugen den Himmel, dann wieder Hubschrauber. Vor dem "Eckstein" stehen Tische und Bänke draußen, ich setze mich an einen. Ob ich Drogen dabei habe, will ein angetrunkener Mann wissen, ich verneine. Er wendet sich wieder drei Frauen zu, die ihn bitten, sie in Ruhe zu lassen. Doch er erzählt immer weiter, mit ihrer Brille sehe sie intellektuell aus, doch ohne würde sie ihr Herz zeigen. Schließlich stehen die Damen auf, ein neues Bier kommt und der Mann bezahlt mit drei Hundertmarkscheinen, nein, er habe es nicht kleiner.

Ein grauhaariger Mann setzt sich dazu, wird von dem Betrunkenen schnell in ein Gespräch verwickelt. Nein, das wäre keine Demokratie, den Leuten würde nur genug Geld überwiesen, dass sie stille blieben, Plattmachen, Randale. Aber warum denn, will der Hinzugekommene wissen. Es den Spießern zeigen, haha. Aber das bringe doch nichts, wendet der Grauhaarige ein. Haha, Euch werden wir«s zeigen.

Polizei in allen Straßen, ich sehe sie beim Zurückradeln, und wieder Hubschrauber. Mit meiner Tochter gehe ich am Nachmittag zum Spielplatz auf dem Teutoburger Platz, selbst dort ist ein Polizeiwagen aufgestellt. Manchmal heulen Sirenen, dann fahren fünf Polizeitransporter durch die Christinenstraße, nein, Bullis heißen die nicht, das wäre wohl polizeifeindlich. Genau, Wannen war das Wort.

Dann kommen zwei Polizisten, oder ist das Bundesgrenzschutz oder GSG 9 oder Bundeswehr, jedenfalls zwei Uniformierte zu Fuß über den Platz. Alle Blicke ziehen sie auf sich, sowohl die der Eltern als auch die der Biertrinker. Sie gehen, als merkten sie es nicht. Soviel jedenfalls dürfte sicher sein, Kaisers wird nicht wieder brennen wie am Tag der Einheit vor einem halben Jahr.

Kurz vor fünf setze ich die Kleine in den Kinderwagen und gehe zum Rosa-Luxemburg-Platz. Die Polizei hat Sperren errichtet, kontrolliert alle Besucher nach Waffen. Doch ich wirke harmlos, sie schauen nicht nach möglichem Plastiksprengstoff im Kinderwagen. Die Menschenmenge wird dichter, vor der Volksbühne spielt eine punkige Band, eine Frau wackelt mit den Brüsten und schreit ins Mikrofon: "Du bist 15 und kriegst schon einen Steifen!" Auf der Wiese lagern die Menschen, trinken Bier. Vor der Bühne 10 Pogo tanzende Punks. Ich gehe wieder zurück durch die Polizeisperren.

Eine Gruppe von 10 bis 15 Mädchen kommt heran, sie rufen im Chor: "Wir wollen keine Bullenschweine!" Sie sind direkt an einer besetzten Polizeiwanne, die letzten Worte ihres Slogans ersticken in ihrem Gelächter. Plötzlich glaube ich an eine akustische Halluzination, ein vielstimmiger Chor singt "Heute beginnt der Rest Deines Lebens!", die Hymne der Reformbühne Heim & Welt. Es ist tatsächlich die sich "Fotzenblock" nennende Spaßguerilla, die mit Megaphon und Anhängerschaft die Bezahlung der Freizeit fordert. Nein, ich kann nicht mitmachen, die Kleine braucht Abendbrot und muss ins Bett. Zu Hause Nachrichten, in Leipzig ein Journalist ernsthaft verletzt. Plötzlich Krach vor dem Fenster. Die Demo zieht eine Straße weiter vorbei, laut rattern wieder die Hubschrauber.

Danach, es ist schon dunkel, noch ins Café Burger. Davor sitzen Punks, von der Polizei bewacht, im Schneidersitz auf dem Mittelstreifen der Torstraße. Eine Punkfrau wird, von zwei weiblichen Uniformierten auf die Toilette eskortiert. Blau blitzt das Polizeilicht durch das Fenster, es ist der erste Mai 1998.

Falko Hennig

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