Ausgabe 09 - 1998berliner stadtzeitung
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8. Mai-schwarzfahr-versichert zur Arbeitslosendemo?

Wer erwischt wird, kriegt die 60,- DM zurück

Die Teilnehmerzahlen der monatlichen Arbeitslosendemonstrationen in Berlin nehmen kontinuierlich ab. Kamen im Februar noch rund 5000 und im März immerhin noch 2000, so trafen sich auf der April-Demonstration gerade noch 1000 Aktivisten, um vor dem Landesarbeits-amt in Kreuzberg Stellung zu beziehen. Lag«s am miesen Wetter oder am Termin, werktags um 10 Uhr morgens? Oder haben die Organisatoren etwas falsch gemacht? Zu intellektuell, zu kopflastig? Immerhin war diesmal sogar eine Band dabei, die live von einem Kasten-LKW aus den Demonstrationszug begleitete.

Vielleicht liegt es ja auch an der allgegenwärtigen Präsenz des Themas in den Medien, die Arbeitslosigkeit zum entscheidenden Wahlkampfthema hochstilisieren, aber außer Statistiken und Prognosen meist nichts zu bieten haben. Der Skandal wird so lange analysiert und diskutiert, bis jeder sich dran gewöhnt hat und das Skandalöse zum Alltäglichen wird. Vielleicht brauchte es ja einen Schock wie die 13 Prozent der DVU bei den Landtagswahlen in Sachsen-Anhalt, um die Brisanz des Themas wieder deutlich zu machen.

Der nächste Aktionstag der Arbeitslosen findet am 8. Mai statt, dem Tag der Befreiung vom Faschismus und der Kapitulation der Nazis, die an die Macht gekommen waren, weil sie aus der Massenarbeitslosigkeit Anfang der 30er Jahre politisches Kapital schlagen konnten. Treffpunkt der Berliner ist diesmal die Gedächtniskirche am Breitscheidplatz, die im Krieg zerstört wurde und danach als Ruine zur Mahnung stehen blieb. Der Anfang der Demonstration wurde auf 11 Uhr festgesetzt. Der Demonstrationszug geht am Maison de France (Ku´damm, Ecke Uhlandstraße) vorbei und streift den Ernst-Reuter-Platz, wo sich das Berufs- und Informationszentrum befindet. Enden soll er vor der Börse an der Fasanenstraße.

Dort steigen die Aktienkurse der Konzerne um so höher, je mehr Leute diese entlassen, dort symbolisiert sich der eigentliche Skandal der 90er Jahre: die Massenarbeitslosigkeit ist keinesfalls das Phänomen einer Wirtschaftskrise. Im Gegenteil, das Bruttosozialprodukt wächst stetig. Nur landet der Profit in den Taschen von wenigen. Arbeitslose werden im Gegenzug aus der (Erwerbs-) Gesellschaft ausgegrenzt, und auch den Beschäftigten wird ihr Anteil an diesem Wachstum vorenthalten. Die Löhne stagnieren und die Arbeitsbedingungen werden schlechter. Der Großteil der Bevölkerung muß mit immer weniger Realeinkommen bei immer höheren Mieten und vor allem auch rapide steigenden öffentlichen Tarifen zurechtkommen.

Zu diesen zählen auch die Tarife für den Öffentlichen Nahverkehr in Berlin. Hier wurde die Sozialkarte abgeschafft, die früher zum verbilligten Kauf von Einzelfahrscheinen berechtigte. Auch Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger müssen jetzt 3,90 DM für eine Einzelfahrt bezahlen - bei durchschnittlichen 770 DM Arbeitslosenhilfe in Berlin-Brandenburg wahrhaft kein Pappenstiel. Das Aktionsbündnis Erwerbslosenprotest, einer der Organisatoren der Aktionstage, hat daher bereits im März die BVG und die S-Bahn-Gesellschaft aufgefordert, zumindest die Arbeitslosen, die zur Demonstration wollen, unentgeltlich zu befördern. Die Verkehrsbetriebe haben das abgelehnt.

Damit diesmal der hohe Fahrkartenpreis keinen Arbeitslosen abschreckt, sein Grundrecht auf Versammlungsfreiheit wahrzunehmen, will das Aktionsbündnis jedem, der auf dem Weg von und zur Demo ohne gültigen Fahrausweis in eine Kontrolle gerät, die fälligen 60,- DM erstatten. Auf der Demonstration soll dafür gesammelt werden, Einzelpersonen und Organisationen bürgen zusätzlich für höhere Beträge, um tatsächlich auch allen möglicherweise Betroffenen helfen zu können.

Ob andere Aktionen während der Demonstration stattfinden, weiß bisher noch niemand. Bei der letzten Demonstration wurden Gutscheine verteilt, die zum Besuch der Lebensmittelabteilung bei Karstadt am Herrmannplatz einluden ("Aktion schlechtes Gewissen" wegen Billiglohnarbeit und 610-DM-Jobs). Rund 50 Teilnehmer kamen der Einladung nach, genauso wie eine Einsatztruppe der Berliner Bereitschaftspolizei. Gegen den Protest des Geschäftsführers von Karstadt interpretierten sie im privaten Raum Kaufhaus das Allgemeine Sicherheits- und Ordnungsgesetz sehr großzügig und verprügelten eine 18jährige Frau, die eine Tafel Schokolade gemopst hatte. Zwei weitere Demonstranten, die der in Handschellen gelegten jungen Frau zur Hilfe kamen, wurden später festgenommen und wegen versuchter Gefangenenbefreiung auf die Wache verfrachtet. Auch die Berliner Polizei scheint denArbeitslosenprotest langsam wahrzunehmen.

Christof Schaffelder

Arbeitslosendemonstration am Freitag, den 8. Mai, um 11 Uhr, Breitscheidplatz (U-Bhf Zoo)

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