Ausgabe 09 - 1998berliner stadtzeitung
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Außen Schokolade

Vorschau auf die dritte Theaterwerkstatt "reich & berühmt" im Podewil

Nein, "showcase beat le mot", hoffentlich passiert nicht, was Ihr vor einiger Zeit als Ziel notiert habt: "Wenn Deine Aufführung beendet ist, soll jeder mit dem Wunsch nach Hause gehen, selbst Theater zu machen. Das könnte ich auch! ist die gewünschte Reaktion." Das hieße: noch mehr Experten, noch mehr grottenschlechte Produktionen...

Der egalitäre Aspekt klingt nach Schlingensief. Ist beinahe Schlingensief. Denn die Gießener Theaterwissenschaftler von "showcase" waren an Schlingensiefs Aktion in der Hamburger Bahnhofsmission beteiligt und setzen wie er auf ein schillerndes Konglomerat aus Realität, Medien, Fußball, Sex, Antitheater und Politik. Anders als der Meister verbleiben sie jedoch im Bereich des "Spiels als ob" und entgehen so der Gefahr, von den Geistern, die sie riefen, überwältigt zu werden. Das vierstündige Nummernprogramm "Radar Radar nichts ist egal" vereint Musik, Gesang und Tanz, Übungen, Spiele, Wettbewerbe und Geschichten sowie Pausen mit Speis´ und Trank. Es gliedert sich sauber in drei Teile: Strategien gegen den Lauschangriff, Flucht aus dem Gefängnis namens Mainstream und Wiederbelebung der sexuellen Befreiung.

Anleihen bei der (unabhängig von jedweder Befreiung prosperierenden) Sex-Industrie nimmt die - ebenfalls aus der Theaternachwuchsschmiede der Nation in Gießen kommende - Gruppe "She She Pop". Frauen stellen sich aus, tanzen auf Tischen. Sie liefern sich dem Publikum aus, lassen es bestimmen, wollen es aber auch beherrschen und - fordern cash für ihren Einsatz. Je mehr cash, desto mehr Theater. Kündigt das Damenoktett jedenfalls an. Zwei von ihnen waren schon bei der letzten Werkstatt als Mitglieder von "The Gob Squad" dabei. Das damalige Stück "Dreamcity" hob phasenweise genial zum Flug aus Raum und Zeit ab, verflachte dann aber zu bitterböse gemeinten Game-Show-Dekonstruktionen, die der realen medialen Erfahrung hinterhinkten. Selbst wenn die Splitter "wahrhaftiger Kunst" nur von poppiger Sauce umspült werden, sind diese Partikel doch des Kommens wert.

Wiedergekommen sind auch Harriet Maria Böge und Peter Meining. Sie bleiben ihrem Konzept: Medien! Medien! Medien! treu und kehren damit ins Theater zurück. Sie haben sich Büchners "Woyzeck" vorgeknöpft und machen aus einem, der zu edel und rein für die Gesellschaft war (weil eben nicht der "Natur entfremdet"), einen, der zum Prototypen sattsam bekannter Zukunftsszenarien umgemodelt werden soll. "Genetik Woyzeck" ist eine Experimentieranordnung aus Videowänden, einem Glaskasten und einem Performer. Der Woyzeck-Darsteller Lars Rudolph scheint mit seinem an Klaus Kinski gemahnenden fies-debilen Spiel die kongeniale Besetzung. Alle anderen Rollen teilen sich ca. zwei Dutzend Prominente (z.B. Eva Mattes, Ulrich Meyer, Frank Castorf, Nick Cave, Otto Sander, Heinz Rennhack). Damit ist immerhin der zweite Teil des Versprechens von "reich & berühmt" erfüllt. Mit Millionengewinnen können die Mitwirkenden wohl nicht rechnen. Im Gegenteil - der Senat plant, den Mitveranstalter (Büro Gulliver) nur zur Hälfte weiter zu fördern. Das wäre eines der vielen falschen Enden, an denen gegenwärtig zu sparen versucht wird. Denn gegenüber dem parallel stattfindenden Theatertreffen, bei dem man schon qua Billett einen Rechtsanspruch auf anerkannt schläfrigen Kulturbetrieb hat, weist "reich & berühmt" trotz aller Unwägbarkeiten das Format eines Überraschungseis auf: außen vielversprechend und innen nicht leer. Vielleicht gelingt es in den diesjährigen Werkstattgesprächen sogar, auf bescheidener angelegten Wegen als 1997, die Konturen des "Theaters der Zukunft" auszumachen. Vielleicht ist "Genetik Woyzeck" tatsächlich die in Aussicht gestellte Verschmelzung von Kino und Theater, Wirklichkeit und Fiktion. Und vielleicht ist "Bietikow Pomp" mehr als ein DDR-Revivical. Bild- und objektsprachlich setzt man beim gelernten Puppenspieler Holger Friedrich ohnehin poetische Magie voraus. Ebenso wie man - last but not least - hoffen kann, daß Ivan Stanevs Uraufführung "Sprechen - Schweigen" nach Texten von Ionesco und Wittgenstein eher den Ende der 80er Jahre gewundenen Lorbeerkränzen frischen Glanz verleiht und weniger die geäußerte Kritik bekräftigt. Er wurde einst als Fremder gefeiert, der kluge Dinge in einer neuen, westöstlichen Sprache zu sagen hat. Der Makel: zu sehr philosophisch eingesponnen.

Tom Mustroph

"reich & berühmt ´98", vom 5. bis 10. Mai im Podewil, Klosterstr. 68-70, Info 24749852/3, Karten 24749777

"Genetik Woyzeck", vom 5. bis 10. Mai um 21 Uhr in der Parochialkirche;

"Bietikow Pomp", am 5. Mai um 22.30 und am 7. Mai um 20 Uhr im Podewil;

"Sprechen - Schweigen", vom 8. bis 10. Mai um 20 Uhr im Podewil;

"Trust!" (She She Pop), am 8. Mai um 22.30 Uhr im Podewil;

"Radar Radar nichts ist egal" am 9. Mai von 19 bis 23 Uhr im Podewil

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  Ausgabe 09 - 1998