Ausgabe 07 - 1998berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen

Leer und öde wirkte die Humboldt-Universität am späten Nachmittag des 20. März. Ungefähr so verlassen, wie man sie sich an einem Freitagnachmittag mitten in den Semesterferien vorstellt. Nur im Ostflügel regte sich etwas. Dort wurde ein von der "Initiative für ein Sozialbündnis" organisierter sozialpolitischer Kongreß eröffnet. Nach und nach fanden ungefähr 130 Leute den Weg durch die leeren Gänge zum Audimax.

Stimmungsmäßig fühlte man sich dort zeitweise ein wenig an den Studentenstreik vom November/Dezember 1997 erinnert, der hier sein logistisches Zentrum hatte. Nur daß jetzt nicht (nur) Studenten das Auditorium bevölkerten, sondern Schüler, Rentner, Erwerbstätige und Erwerbslose, Gewerkschafter, Obdachlose, Eltern. Bunt gemischt, unter ihnen auch einige behinderte Menschen. Doch der Gesprächsstoff wirkte ähnlich. Es ging um Protest. Wogegen oder wofür will man sich einsetzen? Wie kann man Protestpotential aus verschiedenen kleinen Gruppen wirkungsvoll bündeln? Wie genug Menschen erreichen, um durchsetzungsfähig zu werden? Welchen Sinn hat Protest überhaupt?

Die "Initiative für ein Sozialbündnis" gibt es schon seit einigen Monaten. Entstanden als studentisches Projekt während des Uni-Streiks, trafen sich dort Menschen aus ganz verschiedenen politischen und sozialen Zusammenhängen. Im Dezember wurde eine Demonstration gegen den anstehenden Beschluß des Berliner Landeshaushalts organisiert, später wöchentliche Arbeitstreffen durchgeführt. Um die Idee eines Bündnisses, in dem unterschiedliche soziale Projekte zusammenarbeiten, öffentlich zu machen, wurde ein sozial - und stadtpolitischer Kongreß geplant.

Der einführende Vortrag Uwe Radas über "Die Stadt als Ort des sozialen Zusammenlebens" gab einen Vorgeschmack auf die vielen unbeantworteten Fragen, die die Kongreßteilnehmer an diesem Wochenende noch erwarteten: "Was war unreif an den bisherigen Versuchen, die Betroffenen der herrschenden Spardiktatur in einem Bündnis gegen Sozialabbau und Ausgrenzung zusammenzuführen?...Will man die Themen erweitern? Die Proteste der Erwerbslosen flankieren? Oder ist es ein vielleicht sogar hilfloser und verzweifelter Versuch, etwas von den Studentenprotesten ins politische Leben der Stadt herüberzuretten? Und: Was hat ein Student der Betriebswirtschaft mit einem Obdachlosen zu tun?"

Anschließend sollte der Vortrag von den Anwesenden diskutiert werden. Doch dazu kam es nicht. Es gab zwar viele Redner, doch die wollten vor allem eins: Ihre eigenen Probleme loswerden, den Frust über die eigene Hilflosigkeit mit anderen teilen, denen es vielleicht ähnlich geht.

Der Samstag war für inhaltliche Arbeit in verschiedenen Themengruppen reserviert. Angeboten wurden Bildung, Erwerbstätigkeit bzw. -losigkeit, Soziale Projekte, Stadtentwicklung, Antirassismus und Formen des sozialen Widerstands. Auch hier war eine Konzentration auf das Thema Arbeitslosigkeit zu bemerken. Fast die Hälfte aller Anwesenden entschied sich für die entsprechende Arbeitsgruppe.

Nach sechs Stunden Arbeit wurden die Ergebnisse dem Plenum präsentiert. Da es keine einheitlichen Arbeitsvorgaben gab, fielen sie recht unterschiedlich und zum überwiegenden Teil leider wenig konkret aus.

Karoline Kleinert

Kontakt: Sozialbündnis Berlin
c/o Haus der Demokratie, Raum 52
Friedrichstraße 165, 10117 Berlin,
Tel.: 10002653-63, Fax: 102653- 64

Treffen: 14-tägig, dienstags um 19 Uhr im Haus der Demokratie. Das nächste Treffen findet am 31. März statt.

Kein Bündnis ohne Basis

Die lange Vorbereitung war kein Garant für den Erfolg. Bereits im Dezember, auf dem Höhepunkt der Studentenproteste angeregt, gründete sich am Wochenende (20. bis 22.März 1998) zum zweiten Mal ein Sozialbündnis in Berlin. Die Hoffnung, durch einen "Sozialpolitischen Kongreß" mit vielen Initiativen und Betroffenengruppen zusammenzukommen, wurde jedoch enttäuscht. Nur knapp 100 Menschen fanden den Weg in die Humboldt-Universität und diskutierten in verschiedenen Arbeitsgruppen über mögliche Forderungen und die Arbeitsweise des zu gründenden Zusammenschlusses. Ausgespart wurde dabei die Fragestellung über den generellen Sinn und Unsinn eines solchen Unternehmens. Einzig in der Arbeitsgruppe "Stadtentwicklung - Wohnen - Soziale Polarisierung" wurde darüber gestritten. Im Ergebnis wurde festgestellt: Die Tendenzen der Berliner Stadtentwicklung lassen sich mit den Schlagworten Privatisierung, Polarisierung und Liberalisierung beschreiben und richten sich in einer sozialen Eindeutigkeit gegen Menschen mit geringen Einkünften und ungesichertem rechtlichen Status. Zugleich ist eine Entpolitisierung des Konfliktes um städtische Entwicklungen zu bemerken. Auseinandersetzungen um sozial gerechtere Mieten, die Verteilung und den Zugang zu sozialen, medizinischen und infrastrukturellen Ressourcen stehen auf der Tagesordnung und schreien geradezu nach einer breiten sozialen städtischen Bewegung - allein, diese gibt es nicht. Die heterogene Arbeitsgruppe sah sich außerstande, eine solche Bewegung am "grünen Tisch" herbeizudiskutieren. Zum einen waren die anwesenden Gruppen nicht repräsentativ für die Initiativen, die in Berlin zu diesen Themen arbeiten, zum anderen wurde von einer sehr unterschiedlichen Verankerung der einzelnen Projekte ausgegangen. Ein Bündnis jedoch macht nur Sinn, wenn irgendetwas gebündelt werden kann. Ist nicht oder nur wenig vorhanden, muß ersteinmal an der Basis gearbeitet werden, denn ohne lokal verankerte Träger - so die Erfahrung vergangener Netzwerkversuche - lassen sich keine dauerhaft tragfähigen Strukturen aufbauen. Der Aufruf an den Rest des Kongresses, sich zu überlegen, in welcher Form solche Basisinitiativen zu unterstützen sind und selbst dort aktiv zu werden, verhallte leider ungehört im viel zu großen Audimax der Universität.

Andrej Holm

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  Ausgabe 07 - 1998