Ausgabe 03 - 1998berliner stadtzeitung
scheinschlag

Diese Ausgabe

Inhaltsverzeichnis


Zur Homepage

Berlin 1898

12. bis 25. Februar

Die Oberleitung vom Alexanderplatz zum Spittelmarkt wird in der Nacht zum 12. Februar gezogen und im Lauf des Tages befestigt. Damit ist die Leitung für die ganze Strecke Alexanderplatz - Schöneberg fertiggestellt, so dass der Betrieb schon in der nächsten Woche eröffnet werden kann.

Die abgebrannte Borsigmühle (siehe scheinschlag 1/98) wird nicht wieder aufgebaut. So beschließt es am 12. Februar die städtische Baudeputation und findet im ganzen Nordwesten und besonders im Hansa-Viertel Zustimmung. Über das Gebiet soll stattdessen die Uferstraße geführt werden, die Stromstraße und Lessing-Brücke verbinden soll.

Vor hundert Jahren herrschte tiefe Trauer in Alt-Berlin. Am 13. Februar 1798 wurde bekannt, dass der geistreiche und hoffnungsvolle Sohn des damaligen Bürgermeisters von Berlin Wackenroder mit gerade 26 Jahren verstorben war. Als Spiel- und Jugendgefährte von Ludwig Tieck, als geistesverwandter Freund des ebenfalls früh verstorbenen Dichters Hardenberg-Novalis, als Mitbegründer der romantischen Dichterschule und als Verfasser einiger seinerzeit epochemachender Werke wird Wilhelm Heinrich Wackenroder seinen Platz in der Literaturgeschichte behaupten. Volkstümlich und für alle Zeiten ruhmgekrönt wäre der junge Dichter geworden, der selbst Goethes Aufmerksamkeit erregte, hätte ihn der Tod nicht so früh ereilt.

Versuche mit Motorwagen veranstaltet angeblich die Reichspostverwaltung. Doch das stimmt nicht. Nur ein Unternehmer hat bei der Kaiserlichen Ober-Postdirection den Antrag gestellt, ihm einen Postwagen zur Anbringung der Automobilvorrichtung zur Verfügung zu stellen, damit er diesen Wagen vorführen könne.

Im Norden Berlins ist die 95jährige frühere Krankenpflegerin Henriette Kömmer aus der Ackerstraße 33 sehr bekannt. Sie will Mitagessen einkaufen, fällt jedoch wegen ihrer Gebrechlichkeit an der Ecke Elisabethkirch- und Strelitzer Straße von der Bordschwelle auf den Straßendamm, dicht vor einen mit Steinen beladadenen Wagen. Obwohl der Kutscher sein Gespann sofort anhält, kann er nicht verhindern, dass das rechte Pferd die hilflose Greisin mit den Hufen tritt. Sie wird an den Beinen verletzt und vom Hausverwalter ins Krankenhaus gebracht.

Ein neuer Stern ist im Apollo-Theater aufgegangen. Er heißt Loie Fuller mit einem der graziösesten und farbenprächtigsten Schauspiele des Variété fin de sicle, dem Serpentinentanz. Obwohl viel imitiert, ist die Fuller Meisterin dieses Tanzes geblieben. Die Lichteffekte drängen sich nicht schreiend auf, sondern sind ein fein empfundenes Farbenspiel, das kaleidoskopartig immer neue, entzückende Bilder emportauchen lässt. Die Fuller bildet nicht das Projektionsobjekt des lichtspendenden Apparates, sonder sie gibt diesem Apparat erst Richtung und Leben.

Eine Sympathie-Kundgebung an Emile Zola wird im Direktorium der akademischen Lesehalle von der Berliner Studentenschaft abgesandt. Einige Mitglieder der Freien Wissenschaftlichen Vereinigung haben es privat in die Hand genommen und schon über 40 Unterschriften gesammelt.

Bockbier für Kiaotschau. Die deutschen, in der Kiaotschau-Bucht liegenden Streitkräfte bekommen dieser Tage durch Vermittlung des Kaiserlich Deutschen General-Consulats in Shanghai eine Liebesgabe zugesandt. Die Berliner Bockbrauerei schickt den Offizieren und Mannschaften zehn Hektoliter ihres Original-Bockbieres. Für die hiesigen Brauer ist die Sendung von experimentellem Interesse, da das Bier nicht in pasteurisiertem Zustand sondern im Original expediert wird.

Die elektrische Ecke von Berlin könnte man den Stadtteil im Süden und Südosten der Stadt nennen. Außer den drei elektrischen Bahnen, die das Ausstellungsjahr gebracht hat und der von Siemens u. Halske kreuzen sich dort auch noch die Große Pferdebahn nach Treptow und die vom Zoologischen Garten zum Schlesischen Tor. Die Drähte für die Strecke vom Kreuzberg zur Demminer Straße sind durch die Prinzenstraße gezogen, es kreuzen sich elektrische Bahn mit elektrischer Bahn und Draht mit Draht.

Zu einer angeblichen übertriebenen Züchtigung eines Schülers in Schöneberg äußert sich der betreffende Lehrer: "Herr Dr. med. Freund hat mir persönlich mitgeteilt, daß durch die Züchtigung keine für die Gesundheit des Knaben nachtheiligen Folgen enstanden sind. Der Knabe Erns Hotop besucht bereits seit Dienstag, 8. d. Mts., die Schule wieder und ist munter und gesund."

Der Unterschied zwischen Schellfisch und Shell-fish veranlasst Dr. Dornblüth zu einer Richtigstellung in der Berliner Klinischen Wochenschrift, die besonders für die Hausfrauen von Interesse sein dürfte. In letzter Zeit wurde, besonders von englischen und amerikanischen Ärzten, Schellfisch wegen seines Phosphorreichtums gegen verschieden Nervenleiden empfohlen. Dagegen wird vor dem selben Fisch wegen der Gefahr von Infektionskeimen und Giften gewarnt. In beiden Fällen ist das englische Wort "shell-fish" durch das deutsche "Schellfisch" übersetzt worden. Letzterer ist bekanntlich ein Seefisch aus der Familie der Gaduiden, der massenhaft in der Nordsee gefangen wird. Dieser Fisch dürfte seinen Namen der Tatsache verdanken, dass sein Fleisch beim Kochen in flach gewölbte Scheiben zerfällt. Shell-fish heißt aber Schalenfisch, es ist also ein mit harten Schalen versehenes Wassertier. Das sind in erster Linie Austern und andere Muscheln, dann Krustentiere wie Krebse, Krabben, Garneelen, die bekanntlich ein phosphorhaltiges Fett besitzen und an Flussmündungen und Seehäfen Gelegenheit haben, aus dem unreinen Wasser Keime und Gifte aufzunehmen und auf Menschen zu übertragen.

Falko Hennig

© scheinschlag 2000
Inhalt dieser Ausgabe | Home | Aktuelle Ausgabe | Archiv | Sitemap | E-Mail

  Ausgabe 03 - 1998