Ausgabe 01 - 1998berliner stadtzeitung
scheinschlag

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Berlin 1898

15. bis 28. Januar

Selbst über 20 Tage nach dem Brand schleudern Hydrant und Dampfspritze ununterbrochen ungeheure Wassermengen in die Ruine der Borsigmühle in Moabit, die wohl in die Annalen der Berliner Feuerwehr eingehen wird. Immer wieder flammen Getreide und Mehl auf, das in den beiden durch den eigentlichen Mühlenraum getrennten Speichern in Bergen aufgetürmt liegt. Einen grauenhaften Anblick bietet das Innere dieser Räume, nicht ohne Gefahr gelangt man dorthin. Wie Glas sind die Stufen der massiven granitenen Treppen durch Hitze und Wasser zersplittert. Drohend hängen sie teilweise noch am eisernen Geländer wie riesige Gewichte.

In der Höhe der ersten Etage gelangt man in den Mehlspeicher. Durch dichten Dampf hindurch werden die Schattenrisse der arbeitenden Mannschaften sichtbar. Interessant ist, welche Veränderungen hier mit dem Mehl vor sich gegangen sind. Nicht nur hat es die Farbe von Sandstein, es lässt sich auch sägen und schneiden, so haben sich die Feuerleute nette Andenken daraus gefertigt. Eine Türöffnung erlaubt von hier einen Blick in die Mühle. Die "feuersichere" eiserne Tür ist spurlos verschwunden, das Mauerwerk ist mit einer glasartigen, braunen Lasur überzogen, die, zu dicken Tropfen erstarrt, an den Wänden hängt. Dies ist ein sicheres Zeichen dafür, dass das Mauerwerk in Weißglühhitze gestanden hat.

Seltsam der Anblick, der sich von hier oben bietet. Ein unentwirrbares Chaos von Eisenteilen bedeckt völlig den Boden. All die vielen Maschinen, die hier vier Etagen hoch standen, all die Träger und Schienen liegen verbogen und ineinandergeschlungen wie das riesige Flechtwerk eines Wahnsinnigen. Kein Stück Holz ist geblieben, nur Eisen und Stein in dem selben faden, tödlichen Gelb.

Verlassen wir diesen Hexenkessel und gehen an der Ostfront des Gebäudes entlang über schmutzige Pfützen und verkohlte Balken zum Treppenhaus des Kornspeichers. Es ist hier noch sehr warm, bis zum Knöchel sinkt man in das überall liegende von der Hitze gebräunte und vom Wasser durchnässte Getreide, in Korn und Gerste. Ein schauerliches, wildromantisches Bild bietet sich durch eine Maueröffnung. Das Auge folgt dem Strahl der Dampfspritze, der sich in dem hochaufgeschleuderten glühenden Getreide verliert. Dampfwolken wirbeln auf, die für Augenblicke alles verhüllen.

Da! Ein langgezogener Pfiff, der Strahl versiegt und die Gegenstände werden wieder erkennbar: Immense Haufen angekohlten Getreides, aus denen wild durcheinandergestürzt die gigantischen Eisenmassen hervorragen, die einst die hier lagernden ungeheuren Lasten trugen. Noch immer hängen hoch oben in schwindelnder Höhe bedrohlich viele hundert Zentner Schienen und Träger im Mauerwerk, um scheinbar jeden Moment hinunterzustürzen und die Menschen zu zermalmen, die unten arbeiten. Die Feuerleute befestigen starke Taue an den Eisenteilen, die dann von einem Heer von Arbeitern ins Freie gezogen werden.

Die in Berlin lebenden schwarzen Mitbürger feiern den Geburtstag des Kaisers in festlicher Weise. In ihrem Clublokal in der Müllerstraße finden sich 42 dunkle Herren und 12 Damen ein. Herr Robinson, der Vorsitzende des Vereins "Lincoln" und Nestor der hier lebenden Schwarzen, begrüßt seine Rassegenossen und die zur Feier geladenen Weißen mit einer Ansprache. Darin betont er, dass gerade die Deutschen es seien, die im Ausland ihren aus Afrika stammenden Menschenbrüdern am wenigsten wegen ihrer Hautfarbe Abneigung zeigen. Unvergesslich werde es allen nach Bildung strebenden Negern sein, dass deutsche Turnvereine in den Vereinigten Staaten Negern Zutritt gewähren. Im vorigen Jahr hatte aus Anlass des Kaisergeburtstages ein Neger im Deutschen Verein zu Eureka im Staate Nevada die Festrede gehalten.

Die Nachrichten, die aus der Heimat nach Berlin gelangen, bezeugen, dass nicht nur die Neger in der amerikanischen Union, sondern auch an den afrikanischen Küsten anfangen einzusehen, dass sie nur durch zivilisatorische Bestrebungen aus dem Sumpf herauskommen können, in dem sie seit Jahhunderten schmachten. Mit einem Kaiserhoch schließt der Redner seine Ausführungen. Fräulein Grace Pardy, eine hübsche Mulattin, trägt dann das Gedicht "Der schwarze Bruder" vor, dessen Refrain lautet: "Wir alle haben nur einen Gott". Humoristische Vorträge aus dem Negerleben und das Auftreten eines echten Minstrel-Ensembles erheitern die Gäste weiterhin.

Die Errichtung von Fahr-Fachschulen in Berlin wird vom Pferdezucht-Ausschuss der Landwirtschaftskammer abgelehnt. Der Ausschuss sieht in einer solchen Schule keine Vorteile für die Landwirte der Provinz. Dagegen spricht sich der Ausschuss für die Ausdehnung des Stutbuchwesens und die Gründung von Stutbuchgesellschaften aus.

Bei Dienstfahrten des Branddirektors musste bisher immer ein Mannschaftswagen mit vollständiger Besetzung ausrücken. Um zu sparen, wird am 28. Januar eine Dienst-Equipage in Betrieb gestellt. Die Kalesche wird von einem Kutscher in Zivil gefahren, der Schlag trägt das Wappen des Königlichen Polizeipräsidiums. Der Branddirektor kann vom Inneren des Wagens pneumatische Weisungen wie "Halt! Kehrt!" erteilen.

Falko Hennig

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