Ausgabe 06 - 2007 berliner stadtzeitung
scheinschlag

 

Zu guter Letzt 17 Jahre scheinschlag-Geschichte

Der richtige Augenblick ­ und die Chance beim Schopf packen

Die Idee zu einer neuen, unabhängigen Zeitung kam 1990 am „Runden Mitte-Tisch" der besetzten Häuser auf, man wollte sich auch in einer breiteren Öffentlichkeit äußern. Die DDR war soeben verschwunden, die Mainzer Straße geräumt und selbst für die Kaninchen auf dem Potsdamer Platz waren die ruhigen Zeiten vorbei. Die Texte lagen quasi in der Luft, mußten nur noch geschrieben werden, das Anliegen war jedenfalls in groben Zügen klar. Aber ein Konzept, eine Struktur mußte her, wie man eine Zeitung aus dem Nichts auf die Beine stellen konnte.

Ein ausgefeilter Gründungsplan wurde schließlich auf einem der Plena im Schokoladen vorgestellt. Er sah zum einen eine hohe Startauflage von 25000 Exemplaren vor, da sich erst ab dieser Stückzahl große Anzeigenkunden einwerben lassen, zum anderen sollte die Zeitung kostenlos an öffentlichen Orten in Mitte zum Mitnehmen ausliegen. So entfiel die aufwendige Einzelverkaufsabrechnung, außerdem hatte man noch ein weiteres zugkräftiges Argument für die Anzeigenkunden parat („Die kann jeder mitnehmen!"), denn der Druck sollte allein über Anzeigen finanziert werden. Die Anzeigenakquise und den Vertrieb wollten die Beteiligten selbst übernehmen, Engagement für die Sache war also in allen Belangen gefragt. Im Hintergrund hatte man vorab für die Idee einer unabhängigen Zeitung schon rund 15 Unterstützer gewinnen können, die unter anderem die technische Ausstattung mit Computern sicherstellen wollten.

Denn nicht nur die Themen waren zum Greifen nah, selbst die Produktion einer Zeitung konnte in die eigenen Hände genommen werden. Die Technik hatte damals eine revolutionäre Schwelle erreicht: Computer und Programme hatten sich dahingehend entwickelt, daß professionelle Layout-, Grafik-, Bild- und Textbearbeitung im heimischen Wohnzimmer abgewickelt werden konnten. Für eine unabhängige Presse, für engagierte, idealistisch agierende Journalisten war dies der Beginn einer neuen Ära.

Die Zustimmung zur Gründung der Zeitung war auf dem Plenum dementsprechend einhellig, einzig die enorm optimistische Startauflage rief große Heiterkeit hervor. Zur ersten Redaktionssitzung allerdings erschien nur Willi Ebentreich, der Vater des Gründungskonzepts. Kurzerhand wurden per ausgehängter Plakate schließlich doch noch die ersten Mitstreiter gefunden, die zügig loslegten. Die erste scheinschlag-Ausgabe erschien am 23. November 1990, damals noch mit dem Titelzug in fetter Frakturschrift. Die Leser sollten überrascht werden, steht doch die Frakturtype eher für konservative, rechts angesiedelte Inhalte. Im Laufe der nächsten Ausgaben wurde ein funktionales, flexibles Grundlayout gefunden, das für jeden leicht zu handhaben sein sollte ­ man stellte sich realistischerweise von Anfang an auf wechselnde Mitarbeiter ein.

Die Türen der Redaktionsräume standen immer offen: Fotografen brachten ihre Bilder und Zeichner ihre Comics und Illustrationen vorbei, wieder andere berichteten von Ereignissen in ihrer direkten Umgebung, über die unbedingt geschrieben werden müsse. Schließlich wurde die regelmäßige Offene Redaktionssitzung im Café Village Voice eingeführt. Die Redaktion griff entweder die herangetragenen Themen auf oder aber ließ die Informanten gleich selbst aus ihrer ganz persönlichen Sicht darüber schreiben.

Die Texte waren glaubwürdig, weil sie nicht im üblichen distanzierten und geschliffenen journalistischen Stil verfaßt waren. Es gab keine reine Berichterstattung, sondern jeder Artikel vertrat eine Meinung, hinter der eine konkrete Person stand. Auch die Fotografen gaben in den Bildern ihre ungeschminkte alltägliche Sicht auf die Stadt wieder, Ereignis-, Sensations- oder Spektakelbilder fanden im scheinschlag keinen Platz. Und selbst der Leerraum am Spaltenende des Textes signalisierte Ehrlichkeit, war doch offensichtlich genau soviel geschrieben worden, wie es das Thema verlangte ­ wie auch die unvermeidlichen Fehler in den Ausgaben im besten Fall von Unmittelbarkeit und Authentizität zeugten, bewiesen sie doch, daß man am zeitlichen Limit gearbeitet hatte. Im Grunde waren die Mitarbeiter in der Anfangszeit sowieso ständig an allen Fronten im Einsatz. Wer beispielsweise mit dem Auto in der Stadt unterwegs war, hatte immer einen Stapel Zeitungen auf dem Rücksitz, um nachlegen zu können und vielleicht noch Ausschau nach neuen Auslegestellen oder auch Anzeigenkunden zu halten.

scheinschlag wurde mit den Auseinandersetzungen und Konflikten, die die Veränderungen in der Stadt brachten, größer und erarbeitete sich einen Ruf. Immer wieder haben einzelne Personen seine Inhalte und seine Arbeitsstrukturen geprägt, dabei Standards gesetzt, die sich über die Jahre hinweg als tragfähig erwiesen, gerade weil sie so offen angelegt waren, daß jede neue scheinschlag-„Generation" sie als Richtschnur übernehmen konnte ­ und so die Fortexistenz der Zeitung gesichert werden konnte.

Was vielleicht wie ein glücklicher Augenblick der Geschichte aussieht, ist aber ohne den erhöhten Kraftaufwand von seiten der Mitwirkenden nicht denkbar gewesen. Und der Verschleiß war in allen Bereichen immens, verfolgt man die lange Liste der wechselnden Mitarbeiter, die im Impressum aufgeführt wurden. Selbstausbeutung forderte ihren Tribut. Eine minimale finanzielle Anerkennung gab es später nur für die unattraktiven, aber dennoch wichtigen Routinearbeiten, die Anderen mußten sich mit Ruhm und Ehre begnügen.

Im Rückblick hat sich scheinschlag in zwei Bereichen, die aktuell heftig diskutiert werden, in einer Vorreiterrolle befunden, die vor 17 Jahren kaum absehbar war. Zum einen spielen die Gratiszeitungen am Zeitungsmarkt inzwischen eine wichtige Rolle, die europaweit einen regelrechten Boom erleben. Gemeint sind hier nicht die in die Briefkästen gesteckten reinen Anzeigenblättchen, sondern Publikationen mit einem redaktionellen Teil. Noch vor sechs, sieben Jahren hatten große deutschen Zeitungsverlage sich per Gericht gegen die unliebsame Konkurrenz gewehrt, doch 2003 entschied der Bundesgerichtshof, daß Gratiszeitungen wettbewerbsrechtlich unbedenklich und daher im Sinne der Pressefreiheit erlaubt sind. Das Umdenken der Verlage ist nicht zuletzt den rapide sinkenden Auflagen der Kaufzeitungen geschuldet. Mit den Gratiszeitungen erreichen sie vor allem wieder die jungen Leser, die sich an kostenlose Informationen aus dem Internet gewöhnt haben. Bislang ist dort aber das Anzeigenaufkommen eher mager, noch werben die Kunden lieber im traditionellen Printbereich.

Zum anderen wird dem Bürgerjournalismus eine wachsende Bedeutung beigemessen, angesichts der Unzufriedenheit mit den etablierten Medien, von denen bestimmte Nachrichten nicht beachtet werden. Der etablierte Journalismus wehrt sich noch gegen die Konkurrenz. Relevante Inhalte generieren, strukturieren, aufbereiten und die Debatten in den verschiedenen Lebensbereichen moderieren, das sei ein kompliziertes Handwerk, welches nur von talentierten und gut ausgebildeten Journalisten erledigt werden könne, verkündete kürzlich Helmut Heinen, der Präsident des Bundesverbands deutscher Zeitungsverleger. In vielen privaten Blogs im Internet ist man da schon weiter. Themen werden subjektiv, meinungsstark und kompetent aufgegriffen und in der Folge Diskussionen angestoßen. Viele Zeitungen versuchen jetzt auf den Zug aufzuspringen, indem sie ihrem Onlineauftritt diverse Blogs aufpfropfen, mit mäßigem Erfolg. Unbestreitbar ist allerdings, daß das Internet in dieser Hinsicht hauptsächlich von einer sogenannten Infoelite genutzt wird. Eine kostenlos in der Stadt verteilte Zeitung kann dagegen immer noch alle erreichen.

„Seit über 15 Jahren schnappe ich mir den scheinschlag, wo ich ihn erwische, und war nun traurig, als ich die Nachricht von der Einstellung las. Ich wäre immer bereit gewesen, ihn auch zu kaufen und mache mir nun einige Vorwürfe, ihn nie abonniert zu haben. Aber irgendwie war dieses Entdecken an bestimmten Orten im Kiez (und immer wieder fand ich ihn an neuen Orten, egal, wie sich mein Lebensumfeld und mein Lebensinhalt änderte) auch das, was für mich den scheinschlag ausgemacht hat. Als wären die euphorischen frühen neunziger Jahre mit ihren enormen Möglichkeiten im scheinschlag und seiner ungewöhnlichen Beschaffungsmethode erhalten geblieben." (Aus dem Leserbrief von Andrea Rudorff, der uns neben anderen zum Abschied erreichte.)

Sabine Schuster

Illustration: anschlaege.de

file:///data/Gestaltung/scheinschlag/internet%202007-06/texte/16.JPG

 
 
Ausgabe 06 - 2007 © scheinschlag 2007