Der Onkel ist dann nach Amerika
Der Onkel sei dann nach Amerika. Dort habe er die
Beute verzehnfacht. Der habe für sowas ein Händchen
gehabt, der Onkel.
Der Onkel war eigentlich Schneider, das hatte er
gelernt. Schneider beim Hosenmann. Als die Fabrik vom Hosenmann
zumachte, ging der Onkel in die Bank, als Laufbursche. Der
hieß tatsächlich Hosenmann, Mantelschneider
Hosenmann.
Der Onkel trug die Säckchen mit dem Geld
vom Devisenzimmer zum Zählzimmer, vom Zählzimmer zur
Kasse, von der Kasse die Steinstiegen runter in den Tresor. Wieder hoch
in den Hof zu den Geldlastwagen.
Er schaute den Schalterbeamten bei der Arbeit zu,
und weil er sowieso andauernd Ärmelschoner trug, selbst
genäht, fiel es keinem auf, als er irgendwann hinter dem
Tresen stand, Einzahlungen entgegennahm und Blockbuchstaben in die
Kästchen auf den Überweisungsformularen
drückte. Nach Bankschluß rieb er Geldpapier zwischen
den Fingern und summte sich von einer runden Zahl zur
nächsten. Sein kleines Gehalt investierte der Onkel in eine
kleine Münzsammlung, in ein kleines Häuschen und in
eine kleine Tante.
Dem Neffen schenkte der Onkel ein
Münzenalbum, rotes Kunstleder, und ein silbernes
Zehnmarkstück (München 1972). Der Neffe hatte sich
kein Zehnmarkstück gewünscht, jedenfalls keines, das
man nicht ausgeben durfte. Der Onkel schenkte dem Neffen zu jedem
Geburtstag eine Münze, die der nicht ausgeben durfte.
München '72, Innsbruck '76. In der Verwandtschaft
hieß es jetzt: „Der Junge sammelt Münzen."
Die Großeltern steckten
Gedenkfünfmarkstücke in das Album, Kopernikus (500.
Geburtstag '73), Kant (250. Todestag '74), Ebert (50. Todestag '75).
Der Onkel verteidigte sein Schenkgebiet Olympische Spiele: 100
Schilling mit Berg-Isel-Schanze drauf.
Dann machte der Russe dem Onkel einen Strich durch
die Rechnung. Er schickte seine Panzer nach Afghanistan. Die
gedenkmünzenrelevanten Währungen fuhren nicht zu den
Spielen in Moskau. Moskau 1980 fand nicht statt im richtigen Geld. Der
Neffe war dem Russen dankbar. Der Onkel kassierte den nächsten
Schlag.
Vor der Mittagspause sagte der Chef zum Onkel:
„Kommen Sie doch nach der Mittagspause bitte mal zu mir." Das
war ein schöner Spannungsbogen über das Mittagessen
hinweg. Nach der Pause klopfte der Onkel am Büro vom Chef. Die
Sekretärin sagte: „Gehen Sie hinein."
Auf dem Tisch vom Chef stand eine Apparatur. Der
Chef legte einen Geldscheinstapel hinein, und die Maschine machte
flappflappflapp. Scheine, für die die zärtlichen
Finger des Onkels eine halbe Stunde gebraucht hätten,
zählte die Maschine mit frechem Flattern binnen Sekunden.
Der Onkel wurde schwermütig und
antriebslos. Er fuhr zur Kur, kam antriebslos zurück. Blieb
krankgeschrieben und verließ das Bett nicht mehr. Freudlos
blätterte er in der numismatischen Fachpresse, zeichnete den
Wertzuwachs von Schiller (150. Todestag '55) auf Millimeterpapier, und
am Samstagnachmittag tunkte er mit trübem Blick
Münzen in das Silbertauchbad.
Doch der Chef war kein Unmensch. Er ernannte den
Onkel zum stellvertretenden Leiter der Abteilung Numismatik. Der Onkel
taxierte den Wert von Sammlungen und Einzelstücken, er kaufte
und verkaufte Münzen. Energien, wie er jetzt sagte. Denn
während seiner Depression war er, beeinflußt von der
Tante, einer relativ erfolgreichen freiberuflichen Aura-Fotografin,
unter bestimmte Esoteriker geraten, die Geld als Energie
auffaßten und jeden Handel als die höchste Form der
Kommunikation.
Der Handel mit Geld vollzog sich demzufolge auf
einer besonders hoch entwickelten Stufe menschlichen Seins. Reine
Energie-Kommunikation. Eine These, die die Tante mit eindeutigen
Fotografien der Onkel-Aura unterstützen konnte. Ein
geschlossener Strahlenkranz rund um den Onkel herum und insbesondere
das deutlich sichtbare dunkelblaue Wurzelchakra belegten die
spirituelle Überlegenheit des Onkels.
Und tatsächlich: Er war die Schwermut
los. Sie wich einem nervösen Reißen, unter dem der
Onkel bis zu seinem schlimmen Ende leiden sollte. Wenn das
Reißen über ihn kam, schob er das Kinn nach vorn,
drehte den Kopf zur Seite, spannte die Muskelstränge von den
Kiefern bis zum Schlüsselbein, öffnete die Lippen
einen Spalt breit und schnappte nach Luft. So behielt der Neffe den
Onkel im Gedächtnis.
Über die Jahre erreichten den Neffen
nacheinander drei Nachrichten:
1. Onkel Bankdirektor in Dresden
2. Onkel auf der Flucht
3. Onkel tot, Tante reich
1. Dresden
1989: Stellvertretender Leiter Abteilung
Numismatik, weiter konnte ein gelernter Schneider es nicht bringen.
1990: Ein stellvertretender Leiter Abteilung Numismatik stieg in den
Zug. In Dresden stieg ein Interims-Direktor Aufbau Ost wieder aus.
2. Flucht
Interims-Direktor Aufbau Ost war kein Posten auf
Dauer. Nach dem Aufbau, nach der wilden Pionierzeit würden die
Jüngeren kommen, die Gelernten. Das Beste, was den Onkel dann
erwartete, war eine frühe Pensionierung. Der Onkel sorgte vor.
Nach zwei Jahren verließ ein Interims-Direktor Dresden. In
Las Vegas landete ein Millionär. Viereinhalb Millionen Mark,
nach und nach in kleinen Tranchen abgezweigt. Adé kleines
Häuschen, adé kleine Tante, Reichtum hallo!
Der Onkel mietete ein Zimmer im Nevada Jailhouse
Theme Park Hotel.
Als alles schon lange vorbei war, fuhr der Neffe
einmal hin und schaute sich das Hotel an, auch das Zimmer des Onkels.
Sie hatten es längst renoviert, natürlich, und die
ganze Etage gestrichen. 400 Einzelzimmer, die billigen mit Bad, die
teuren mit Gemeinschaftswaschraum am Ende des Flurs. Da wurde man vom
Wärter hingebracht. Wecken früh um fünf,
Einschluß abends um zehn. Die Zimmer bezahlte man voraus und
bar.
Die Frühstückswärterin
erinnerte sich gut an den Deutschen mit dem nervösen
Reißen. Auch der Herr an der Kasinokasse. Er verfluchte den
Typen, der den ganzen Betrieb aufgehalten hatte. Wenn der Jetons
gekauft habe, habe er immer, immer wieder seine Fingerspitzen durch die
Dollarbündel streichen lassen. „I mean, he really
was kind of STIMULATING them. Die Leute in der Schlange standen sich
die Beine in den Hals, but he was kind of preparing himself for some
odd sort of INTERCOURSE." Und diese Furchen am Hals. Dicke
Muskelwülste, dazwischen diese tiefen Furchen.
Der Onkel verdoppelte die viereinhalb Millionen.
„He WANTED to lose", sagte der Herr an der Kasse.
„He came here to fail. Wer so spielt, der will verlieren.
Aber dann, dann hat er einfach aufgehört. Hat einfach nicht
mehr gesetzt. You know, erst auf volles Risiko, er gewinnt und gewinnt,
er steht praktisch draußen auf dem Fenstersims, dreht
Pirouetten, freihändig, stundenlang. Und auf einmal klettert
er wieder rein!"
Der Waschraumwärter sagte, der Onkel habe
am letzten Abend einen bodenlangen Mantel getragen, aus Geldscheinen.
Mit einer Schleppe aus 100-Dollar-Noten und einem dicken Kragen aus
Geldscheinfransenpelz. Nach dem Einschluß habe er in der
Zelle gesessen und die Stapel gezählt, immer und immer wieder.
Wie es nun genau zu dem Feuer gekommen war,
ließ sich nicht mehr feststellen. Die Tante sagte, es sei
wegen der Reibung gewesen. Der Onkel habe das Geld so
heißgezählt, daß es sich
entzündet habe. Der Onkel lag dann auf dem Zellenboden.
Schwarz, klein, trokken. Den Kopf zur Seite, Kinn nach oben, Mund ein
Spalt.
3. Tante reich
Die Tante verklagte das Hotel. Jailhouse hin oder
her, die Zimmer müßten von innen zu öffnen
sein. Die Entschädigung bestand aus:
a) einer Entschädigung für den
ver-
brannten Roulettegewinn
b) einer Entschädigung für den
ver-
brannten Onkel, weil der Onkel jetzt
tot war,
c) einer Entschädigung für den
verbrannten Onkel, weil der Onkel so grausam verbrannt war, sowie
d) einer Entschädigung für die
besondere psychische Belastung der Tante durch die im Prozeß
verhandelten medizinischen, biochemischen und krematologischen Details.
So habe der Onkel das Geld am Ende verzehnfacht:
45 Millionen Mark. Die Tante habe damit ein Chalet für
ganzheitliche Kommunikation eröffnet. Sie habe aber keine
rechte Freude daran. In die telepathischen Sitzungen platze immer
wieder der Onkel. Er frage in drängendem Ton, ob sie das
gewußt habe, wie das alles ausgehen würde. Mit
„das alles" meine der Onkel sein Leben. Diese Frage sei ihr
peinlich vor den Kunden, sage die Tante, aber auch vor den
Mitarbeitern.
Bov Bjerg
Bov Bjerg schrieb von Juli 1992 bis März
2002 (im Wechsel mit Hans Duschke) die Kolumne „Nachgefragt".
