Ausgabe 06 - 2007 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

Schließ mir die Welt auf, bitte!

Das Regietheater der BRD hat sich schon lange überlebt


Foto: Andreas Muhs

Kurz nach den Anschlägen des 11. September 2001 gab Claus Peymann ­ der Intendant des Berliner Ensembles, der so gerne Reißzahn wäre im Fleisch der Politik ­ bekannt, daß er aufgrund der Ereignisse den Spielplan ändere und Nathan der Weise aufs Programm setze. Ein paar Monate später durfte man dann diesen Nathan auf der Bühne besichtigen: ein überaus harmloses Vergnügen. Hilfloser, rührender, ja lächerlicher hätte eine Reaktion des Theaters auf die große Politik kaum aussehen können. Hätte Peymann den Nathan ein Jahr früher inszeniert, er hätte haargenau gleich ausgesehen: Daß etwas passiert war in der Außenwelt, das blieb für die Aufführung folgenlos.

Es gibt eine Generation von alten Männern im Regietheater, von denen wird erzählt, daß sie früher einmal ­ in den 60er und 70er Jahren ­ mit den alten Stükken politisches Theater gemacht hätten. Daß sie angetreten seien, mit Shakespeare und Schiller die bundesrepublikanische Gegenwart zu deuten. Diese alten Männer sind immer noch nicht müde, sie inszenieren etwa einen zehnstündigen Wallenstein (ein übrigens ziemlich politisches Stück) in Neukölln in einer Brauerei ­ nur: Von einer politischen Lesart ist so eine Veranstaltung etwa so weit entfernt wie eine Show der Blue Man Group. Das satte und saturierte Publikum klatscht zu beidem. Der politische Furor von einst ist so gründlich gewichen, daß Peter Stein (der Regisseur des Wallenstein) gerne Geld von der Deutschen Bank und von Daimler nimmt, um seine Edeltheater-Familie lange genug zum gemeinsamen Text-Aufsagen zusammenpferchen zu können.

Was aber geht das alles uns an? Uns Jüngere? Wir müssen ja nicht zu den Greisen ins Berliner Ensemble oder andernorts gehen, um welthaltiges Theater zu erleben. Wir können ja ­ ja, wohin? Da wird's schnell schwierig. Günther Rühle, Theaterhistoriker, Ex-Kritiker, Ex-Intendant, mit über 80 Jahren längst auch ein Greis, hat zum Ende des Berliner Theatertreffens im Mai das Gegenwartstheater in Bausch und Bogen der Bedeutungslosigkeit geziehen ­ und verdammt!, dem alten Mann ist schwer zu widersprechen. Wer das Theatertreffen verfolgt hat, bei dem ja angeblich die bemerkenswertesten deutschsprachigen Inszenierungen gezeigt werden, der konnte schier verzweifeln: Weltdeutung fand ­ mit ganz wenigen Ausnahmen ­ nicht statt. Die Ausnahmen seien ­ der Fairness halber ­ gleich genannt: Nicolas Stemann präsentierte seine Hamburger Inszenierung von Elfriede Jelineks Ulrike Maria Stuart, in der die Unfähigkeit der Nach-68er, politische Positionen zu beziehen, einen anarchisch-verjuxten Ausdruck findet. Und Dimiter Gotscheff zeigte einen Tartuffe, ebenfalls aus Hamburg, in dem eine grenzdebile Gegenwartsgesellschaft gezeichnet wird, die nicht in der Lage ist, ideologischen Fanatismen konsistente Argumentationen entgegenzusetzen. Zwei von zehn Inszenierungen, denen man einen ernsthaften Umgang mit der Gegenwart bescheinigen konnte: eine magere Ausbeute.

Wohin also? An den großen Bühnen wird, wer eine herausfordernde Sicht auf die Gegenwart, Bedeutendes im Wortsinne also, sucht, wenig fündig: Thomas Ostermeiers Schaubühne spielt am liebsten Ibsen, denn das bürgerliche Wohnzimmer kann man immer wieder so wunderbar leicht auslüften (als wenn es da noch was zu lüften gäbe); die Volksbühne ist gerade völlig desorientiert und perpetuiert einfach auf Sparflamme ihr Theater der 90er Jahre; und am Deutschen Theater thalheimert es überwiegend: Es wird als chic empfunden, jedes Stück ein bißchen zu skelettieren, politische Kopfnüsse werden dabei aber auch nicht gerade verteilt.

„Die tragfähigsten, politisch aufregendsten Regiehandschriften der Nachwendezeit kamen aus dem Osten"

Also ab in die freie Szene. Doch auch hier stolpert man von Enttäuschung zu Enttäuschung, und es drängt sich der Verdacht auf, daß die Professionalisierung der freien Szene im letzten Jahrzehnt nicht nur Gutes gebracht hat. Die Sophiensæle und das HAU netzwerken und koproduzieren, was das Zeug hält, doch eben diese Netzwerkerei scheint selbstreferentielle Ergebnisse irgendwie zu begünstigen. Die GmbH wird zum Normalfall der freien Szene: Jochen Sandig probiert im Radialsystem gegenüber dem Ostbahnhof das Prinzip freie Szene im großen Stil als Geschäftsmodell aus; ein anderer ehemaliger Protagonist des Off-Theaters, Tom Stromberg, verbündete sich sogar mit den apolitisch gewordenen Rentnern und gründete mit Peter Zadek wasihrwollt-productions, um mit Shakespeares Was ihr wollt eine Edelproduktion à la Wallenstein zu stemmen (was nun krankheitshalber abgesagt wurde). Ausnahmsweise stößt man natürlich trotzdem noch auf substantielle Ansätze in der freien Szene: Dirk Cieslaks „Zornige Menschen"-Projekte mit der Gruppe Lubricat etwa gehören dazu.

„Das Theater muß sich mit jeder Aufführung neu befragen, wie und warum es dem Zuschauer zurufen will: 'Du mußt dein Leben ändern!'"

Vielleicht ist es aber auch einfach vermessen und nicht mehr zeitgemäß, dem heutigen Theater Weltdeutungskraft abzuverlangen? Das Regietheater der BRD, der Steins, Zadeks und Peymanns, hat sich halt schon lange überlebt ­ was soll's? Willkommen in der Postmoderne. Doch halt! Es gab doch noch einen zweiten deutschen Staat, und da wurde das Theater immer politisch verstanden. Und siehe da: Die tragfähigsten, politisch aufregendsten Regiehandschriften der Nachwendezeit kamen aus dem Osten: Heiner Müller, Ruth Berghaus, Einar Schleef (leider alle tot), der frühe Castorf (der späte leider scheintot). Sie glaubten nicht alle ­ wie noch Brecht ­ an die Veränderbarkeit der Welt, doch zumindest hatten sie sich mit dem Gedanken an Veränderbarkeit auseinandergesetzt: Die künstlerischen Brecht-Erben gaben dem Theater der 90er Jahre das prägnanteste Gesicht, zumindest hier hatte die DDR gesiegt. Und ein wenig vom Glanz der Theater-DDR strahlt auch noch ins Heute: Der Ernst, mit dem der (oben bereits erwähnte) Bulgare Dimiter Gotscheff in seinen Inszenierungen dem Publikum einen zur Kenntlichkeit entstellenden Zerrspiegel vorhält, stammt aus dieser Tradition. Und was mancher (ich!) seit Müllers, Berghaus', Schleefs Tod so schmerzhaft vermißt, das wird bei Gotscheff noch einmal gewagt: Theater, das seine Unzufriedenheit mit dem Weltlauf nicht verbergen kann und dafür einfache, große Zeichen findet. Wie Gotscheff am Beginn der Perser des Aischylos (das erste erhaltene Stück der Weltliteratur und gleich ein politisches!) gleichsam die Geburt des politischen Theaters aus dem Geiste des Slapsticks vorführt, das ist grandios: Die Schauspieler Samuel Finzi und Wolfram Koch finden sich zu zwei Seiten einer mächtigen, verschiebbaren Wand, die Finzi durch beiläufiges Anlehnen um ein paar Zentimeter verrückt. Und schon ist Krieg! Von Gotscheff laufen derzeit eine Handvoll Inszenierungen an der Volksbühne und am Deutschen Theater, die alle unbedingt sehenswert sind.

Aber zugegeben: Die Welt ist komplexer geworden, die Rezepte eines Müller oder Schleef passen nicht ewig, und auch Gotscheff kann sich nicht immer dem Vorwurf entziehen, die gesellschaftlichen Kräfte etwas zu sehr aufs Schwarzweiße zu reduzieren. Doch wenn sich das Theater als eine genuin öffentliche Kunstform auf Dauer nicht in die Marginalität verabschieden will (wo es ­ seien wir ehrlich ­ seiner öffentlichen Wirkung nach schon angekommen ist), dann muß es sich mit jeder Aufführung neu befragen, wie und warum es dem Zuschauer zurufen will: „Du mußt dein Leben ändern!" Zumindest potentiell. Wie das heute gehen soll, scheint weitgehend unklar, was aber nicht entmutigen sollte: Schon Adorno wußte, daß man halt Dinge machen müsse, von denen man nicht weiß, was sie sind.

Einer der ältesten (und überflüssigsten) Grabenkämpfe der Theaterwelt ist der zwischen dem sogenannten „modernen" und dem „konventionellen" Theater. Auf der einen Seite stehen die ewigen Normenzertrümmerer und Adepten der Nicht-Linearität von Castorf bis Pollesch, auf der anderen diejenigen, die „einfach nur eine gute Geschichte erzählen wollen". Die eine Seite glaubt oft ­ in Verlängerung einer Widerstands-Ästhetik ­ per se politisch zu sein, die andere glaubt oft eigentlich gar nichts. Der Streit verwischt aber das Eigentliche: daß das „gute" Theater das ist, das ­ auf welche Weise auch immer ­ Welt aufschließt. Politisches Theater eben.

Raoul Golwenberg

 
 
 
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