Schließ mir die Welt auf, bitte!
Das Regietheater der BRD hat sich schon lange
überlebt

Foto: Andreas Muhs
Kurz nach den
Anschlägen des 11. September 2001 gab Claus Peymann
der Intendant des Berliner Ensembles, der so gerne Reißzahn
wäre im Fleisch der Politik bekannt, daß
er aufgrund der Ereignisse den Spielplan ändere und Nathan der
Weise aufs Programm setze. Ein paar Monate später durfte man
dann diesen Nathan auf der Bühne besichtigen: ein
überaus harmloses Vergnügen. Hilfloser,
rührender, ja lächerlicher hätte eine
Reaktion des Theaters auf die große Politik kaum aussehen
können. Hätte Peymann den Nathan ein Jahr
früher inszeniert, er hätte haargenau gleich
ausgesehen: Daß etwas passiert war in der
Außenwelt, das blieb für die Aufführung
folgenlos.
Es gibt eine Generation von alten Männern
im Regietheater, von denen wird erzählt, daß sie
früher einmal in den 60er und 70er Jahren
mit den alten Stükken politisches Theater gemacht
hätten. Daß sie angetreten seien, mit Shakespeare
und Schiller die bundesrepublikanische Gegenwart zu deuten. Diese alten
Männer sind immer noch nicht müde, sie inszenieren
etwa einen zehnstündigen Wallenstein (ein übrigens
ziemlich politisches Stück) in Neukölln in einer
Brauerei nur: Von einer politischen Lesart ist so eine
Veranstaltung etwa so weit entfernt wie eine Show der Blue Man Group.
Das satte und saturierte Publikum klatscht zu beidem. Der politische
Furor von einst ist so gründlich gewichen, daß Peter
Stein (der Regisseur des Wallenstein) gerne Geld von der Deutschen Bank
und von Daimler nimmt, um seine Edeltheater-Familie lange genug zum
gemeinsamen Text-Aufsagen zusammenpferchen zu können.
Was aber geht das alles uns an? Uns
Jüngere? Wir müssen ja nicht zu den Greisen ins
Berliner Ensemble oder andernorts gehen, um welthaltiges Theater zu
erleben. Wir können ja ja, wohin? Da wird's schnell
schwierig. Günther Rühle, Theaterhistoriker,
Ex-Kritiker, Ex-Intendant, mit über 80 Jahren längst
auch ein Greis, hat zum Ende des Berliner Theatertreffens im Mai das
Gegenwartstheater in Bausch und Bogen der Bedeutungslosigkeit geziehen
und verdammt!, dem alten Mann ist schwer zu widersprechen.
Wer das Theatertreffen verfolgt hat, bei dem ja angeblich die
bemerkenswertesten deutschsprachigen Inszenierungen gezeigt werden, der
konnte schier verzweifeln: Weltdeutung fand mit ganz wenigen
Ausnahmen nicht statt. Die Ausnahmen seien der
Fairness halber gleich genannt: Nicolas Stemann
präsentierte seine Hamburger Inszenierung von Elfriede
Jelineks Ulrike Maria Stuart, in der die Unfähigkeit der
Nach-68er, politische Positionen zu beziehen, einen
anarchisch-verjuxten Ausdruck findet. Und Dimiter Gotscheff zeigte
einen Tartuffe, ebenfalls aus Hamburg, in dem eine grenzdebile
Gegenwartsgesellschaft gezeichnet wird, die nicht in der Lage ist,
ideologischen Fanatismen konsistente Argumentationen entgegenzusetzen.
Zwei von zehn Inszenierungen, denen man einen ernsthaften Umgang mit
der Gegenwart bescheinigen konnte: eine magere Ausbeute.
Wohin also? An den großen
Bühnen wird, wer eine herausfordernde Sicht auf die Gegenwart,
Bedeutendes im Wortsinne also, sucht, wenig fündig: Thomas
Ostermeiers Schaubühne spielt am liebsten Ibsen, denn das
bürgerliche Wohnzimmer kann man immer wieder so wunderbar
leicht auslüften (als wenn es da noch was zu lüften
gäbe); die Volksbühne ist gerade völlig
desorientiert und perpetuiert einfach auf Sparflamme ihr Theater der
90er Jahre; und am Deutschen Theater thalheimert es
überwiegend: Es wird als chic empfunden, jedes Stück
ein bißchen zu skelettieren, politische Kopfnüsse
werden dabei aber auch nicht gerade verteilt.
„Die tragfähigsten, politisch
aufregendsten Regiehandschriften der Nachwendezeit kamen aus dem Osten"
Also ab in die freie Szene. Doch auch hier
stolpert man von Enttäuschung zu Enttäuschung, und es
drängt sich der Verdacht auf, daß die
Professionalisierung der freien Szene im letzten Jahrzehnt nicht nur
Gutes gebracht hat. Die Sophiensæle und das HAU netzwerken
und koproduzieren, was das Zeug hält, doch eben diese
Netzwerkerei scheint selbstreferentielle Ergebnisse irgendwie zu
begünstigen. Die GmbH wird zum Normalfall der freien Szene:
Jochen Sandig probiert im Radialsystem gegenüber dem
Ostbahnhof das Prinzip freie Szene im großen Stil als
Geschäftsmodell aus; ein anderer ehemaliger Protagonist des
Off-Theaters, Tom Stromberg, verbündete sich sogar mit den
apolitisch gewordenen Rentnern und gründete mit Peter Zadek
wasihrwollt-productions, um mit Shakespeares Was ihr wollt eine
Edelproduktion à la Wallenstein zu stemmen (was nun
krankheitshalber abgesagt wurde). Ausnahmsweise
stößt man natürlich trotzdem noch auf
substantielle Ansätze in der freien Szene: Dirk Cieslaks
„Zornige Menschen"-Projekte mit der Gruppe Lubricat etwa
gehören dazu.
„Das Theater muß sich mit
jeder Aufführung neu befragen, wie und warum es dem Zuschauer
zurufen will: 'Du mußt dein Leben ändern!'"
Vielleicht ist es aber auch einfach vermessen und
nicht mehr zeitgemäß, dem heutigen Theater
Weltdeutungskraft abzuverlangen? Das Regietheater der BRD, der Steins,
Zadeks und Peymanns, hat sich halt schon lange überlebt
was soll's? Willkommen in der Postmoderne. Doch halt! Es gab
doch noch einen zweiten deutschen Staat, und da wurde das Theater immer
politisch verstanden. Und siehe da: Die tragfähigsten,
politisch aufregendsten Regiehandschriften der Nachwendezeit kamen aus
dem Osten: Heiner Müller, Ruth Berghaus, Einar Schleef (leider
alle tot), der frühe Castorf (der späte leider
scheintot). Sie glaubten nicht alle wie noch Brecht
an die Veränderbarkeit der Welt, doch zumindest hatten sie
sich mit dem Gedanken an Veränderbarkeit auseinandergesetzt:
Die künstlerischen Brecht-Erben gaben dem Theater der 90er
Jahre das prägnanteste Gesicht, zumindest hier hatte die DDR
gesiegt. Und ein wenig vom Glanz der Theater-DDR strahlt auch noch ins
Heute: Der Ernst, mit dem der (oben bereits erwähnte) Bulgare
Dimiter Gotscheff in seinen Inszenierungen dem Publikum einen zur
Kenntlichkeit entstellenden Zerrspiegel vorhält, stammt aus
dieser Tradition. Und was mancher (ich!) seit Müllers,
Berghaus', Schleefs Tod so schmerzhaft vermißt, das wird bei
Gotscheff noch einmal gewagt: Theater, das seine Unzufriedenheit mit
dem Weltlauf nicht verbergen kann und dafür einfache,
große Zeichen findet. Wie Gotscheff am Beginn der Perser des
Aischylos (das erste erhaltene Stück der Weltliteratur und
gleich ein politisches!) gleichsam die Geburt des politischen Theaters
aus dem Geiste des Slapsticks vorführt, das ist grandios: Die
Schauspieler Samuel Finzi und Wolfram Koch finden sich zu zwei Seiten
einer mächtigen, verschiebbaren Wand, die Finzi durch
beiläufiges Anlehnen um ein paar Zentimeter verrückt.
Und schon ist Krieg! Von Gotscheff laufen derzeit eine Handvoll
Inszenierungen an der Volksbühne und am Deutschen Theater, die
alle unbedingt sehenswert sind.
Aber zugegeben: Die Welt ist komplexer geworden,
die Rezepte eines Müller oder Schleef passen nicht ewig, und
auch Gotscheff kann sich nicht immer dem Vorwurf entziehen, die
gesellschaftlichen Kräfte etwas zu sehr aufs
Schwarzweiße zu reduzieren. Doch wenn sich das Theater als
eine genuin öffentliche Kunstform auf Dauer nicht in die
Marginalität verabschieden will (wo es seien wir
ehrlich seiner öffentlichen Wirkung nach schon
angekommen ist), dann muß es sich mit jeder
Aufführung neu befragen, wie und warum es dem Zuschauer
zurufen will: „Du mußt dein Leben ändern!"
Zumindest potentiell. Wie das heute gehen soll, scheint weitgehend
unklar, was aber nicht entmutigen sollte: Schon Adorno wußte,
daß man halt Dinge machen müsse, von denen man nicht
weiß, was sie sind.
Einer der ältesten (und
überflüssigsten) Grabenkämpfe der
Theaterwelt ist der zwischen dem sogenannten „modernen" und
dem „konventionellen" Theater. Auf der einen Seite stehen die
ewigen Normenzertrümmerer und Adepten der
Nicht-Linearität von Castorf bis Pollesch, auf der anderen
diejenigen, die „einfach nur eine gute Geschichte
erzählen wollen". Die eine Seite glaubt oft in
Verlängerung einer Widerstands-Ästhetik per
se politisch zu sein, die andere glaubt oft eigentlich gar nichts. Der
Streit verwischt aber das Eigentliche: daß das
„gute" Theater das ist, das auf welche Weise auch
immer Welt aufschließt. Politisches Theater eben.
Raoul Golwenberg