Ausgabe 06 - 2007 berliner stadtzeitung
scheinschlag

 

„Die bürgerliche Freiheit wird weiter eingeschränkt"

Norbert Pütter über repressive Prävention und die Produktion von Unsicherheit


Illustration: Jan Gillich

„Sicherheit" ist das Thema. „Mehr! Mehr!" tönt es von allen Seiten. Und kein Politiker, der etwas auf sich hält, weil er wiedergewählt werden möchte, kann sich dem Ruf widersetzen. Also dreht die schwarz-rot-rot-grüne Koalition weiter an der Schraube, derweil der Bürger, der mit „Freiheit" mehr im Sinn hat als Geldverdienen, laut aufschreit. ­ Norbert Pütter lehrt Politikwissenschaft an der FU Berlin und leitet das Institut für Bürgerrechte & öffentliche Sicherheit e.V.

Wenn man die Entwicklung der Politik der Inneren Sicherheit seit 1989 Revue passieren läßt, dann wird häufig der 11. September 2001 als entscheidender Wendepunkt genannt. Sehen Sie das auch so?

Einige Experten sind der Meinung, daß bis zum 11. September alles in rechtsstaatlich einwandfreien Bahnen lief und dann der Untergang des Rechtsstaats begann. Das ist falsch. Die Erosion rechtsstaatlicher Standards hat früher eingesetzt. Ein klassisches Beispiel ist der europäische Haftbefehl, dessen Einführung schon lange vorher geplant war. Die Umsetzung dieses Vorhabens wurde durch die Anschläge bloß beschleunigt, Widerstände und Bedenken auch von etablierten Vertretern rechtsstaatlichen Denkens konnten leichter überspielt werden. Im Zusammenspiel zwischen den Interessen der Strafverfolgungsbehörden, der Polizei und einer Politik, die nun Durchsetzungsfähigkeit demonstrieren will, konnte jetzt einiges durchgesetzt werden.

Bis wann muß man zurückgehen, um die heutige Situation zu verstehen?

Die Vorgeschichte reicht bis in die 70er Jahre zurück, als der Begriff der „vorbeugenden Verbrechensbekämpfung" erfunden wurde. Seitdem orientiert sich die Kriminalitätsbekämpfung strategisch an der Idee, nicht zu warten, bis Kriminalität passiert, sondern sie vorbeugend zu verhindern. Die Polizei begann mit Observationen, dem Einsatz von verdeckten Ermittlern und V-Personen. In den 80er Jahren wurde diese Praxis im Polizeirecht legalisiert und in den 90ern in der Strafprozeßordnung (StPO).

Wobei Vorbeugung doch nicht schlecht ist.

Vorbeugung ist gut, aber wenn sie mit repressiven Mitteln erreicht werden soll, wird sie zum Problem. Da Vorbeugung immer auf einer Prognose fußt, sind Grundrechtseingriffe immer mit einem Unsicherheitsfaktor behaftet. Dazu kommt, daß die Daten, die der Prognose zugrundeliegen, nicht unabhängig überprüfbar sind, weil sie von der Polizei erhoben wurden.

Man kann das sehr gut bei der Telefonüberwachung erkennen, wo es den berühmten Richtervorbehalt gibt, der den Ermittlungswunsch der Polizei in rechtsstaatliche Formen einbinden soll. Es ist allerdings empirisch nachgewiesen worden, daß dieser Vorbehalt weitgehend ins Leere läuft. Die Richter haben nicht nur zu wenig Zeit, um den Antrag zu prüfen, sondern sie sind auch materiell nicht in der Lage, weil sie keine anderen Erkenntnisse haben als die, die ihnen die Polizei liefert. Und wenn die Polizei angibt, daß sie durch eine Telefonüberwachung eine Rauschgiftbande auffliegen lassen kann, wird sich da kein Richter entziehen. Insofern hört sich „Prävention" zuerst einmal sehr gut an, dient aber vor allem als Mittel, die Schwellen für Eingriffe in Bürgerrechte zu senken.

Aber der Staat braucht doch Instrumente, um Kriminalität zu bekämpfen.

Sicher. Aber die gegenwärtige Entwicklung im Eingriffsrecht ist so, daß die Eingriffsschranken, also etwa die Frage, bei welchem Delikt welche Maßnahme ergriffen werden darf, sinken. Jeder würde die Telefonüberwachung bei einer Geiselnahme, einem Mord oder anderen schweren Delikten bejahen. Aber diese schwerwiegenden Eingriffe werden in der aktuellen Gesetzgebung nicht mehr an einen Katalog von konkreten Straftaten gebunden, sondern durch pauschale Ermächtigungen wie bei „Straftaten von erheblicher Bedeutung, die organisiert begangen werden", ersetzt.

Wobei sich dann die Frage stellt, was das heißen soll: „organisiert"? Oder: „Straftaten von erheblicher Bedeutung"? Das sind unklare Rechtsbegriffe, die bewußt verwendet werden, um den Ermittlungsbehörden ein Repertoire an die Hand zu geben, damit sie in jeder Situation auf eine Rechtsgrundlage zurückgreifen können. Als Ausgleich stärkt man die rechtlichen Kontrollmöglichkeiten, indem Anordnungsbefugnisse und Benachrichtigungspflichten und so weiter festgelegt werden ­ ein Irrweg! Alle Untersuchungen zeigen, daß sich das neue Instrumentarium so nicht begrenzen läßt.

Warum drehen sich die Auseinandersetzungen so oft um den Strafprozeß und die StPO?

Es gibt in Deutschland zwei Rechtssysteme, die Eingriffe ermöglichen: Zum einen das Polizeirecht, das der Gefahrenabwehr dient. Wenn ein Baum auf den Bürgersteig zu stürzen droht, hat die Polizei die Befugnis, diese Stelle abzusperren. Die konkrete Gefahr rechtfertigt den Eingriff in die Bewegungsfreiheit.

Zum zweiten das Strafprozeßrecht, das einerseits dazu dient, die Rechte des Bürgers im Strafverfahren zu sichern, und andererseits die Rechtsgrundlagen für Eingriffe im Rahmen der Strafverfolgung bietet. In dem Maße, wie sich die polizeirechtliche Gefahrenabwehr von der konkreten Gefahr in Richtung vorbeugende Verbrechensbekämpfung ausweitet, müssen die Eingriffsbefugnisse des Strafprozeßrechts entsprechend angeglichen werden. Wenn die Justiz im Strafverfahren Beweismittel verwenden will, die auf der Basis von im Polizeirecht geregelten präventiven Eingriffen erhoben wurden, um z.B. Rauschgifthändler verurteilen zu können, braucht sie auch eine Ermittlungsbefugnis in der StPO. Deshalb ist in der ersten Phase zunächst das Polizeirecht erweitert worden, und in der zweiten Phase, seit den 90er Jahren, wird versucht, analoge Befugnisse in die StPO zu integrieren.

Das ist ja eigentlich konsequent.

Ja, aber durch diesen Transfer werden sowohl die Einsatzschwellen ­ also der Verdachtsgrad ­ als auch die Standards des Strafprozesses abgesenkt. Letztlich kann das bedeuten, daß im Strafprozeß plötzlich Beweise eingeführt werden, die unter klassischen StPO-Bedingungen gar nicht hätten zustandekommen können. Wenn die Polizei z.B. eine Rauschgiftbande beobachten und auffliegen läßt, löst sich ja nicht das Rauschgiftproblem, weil die Nachfrage nicht beseitigt wird. Also sollen die Quellen in den Nachfolgestrukturen verbleiben und weiterhin Informationen liefern. Weil ihre Identität nicht enttarnt werden soll, dürfen sie nicht im Strafprozeß auftreten; man versucht deshalb, ihre Informationen irgendwie zu filtern, indem man Surrogate schafft. Das kann ein Sachbeweis sein, z.B. wird jemand beim Drogenhandel von der Polizei beobachtet und festgenommen. In diesem Fall muß die V-Person nicht mehr aussagen, die vorher die Polizei über den Deal informiert hat. Doch woher weiß die Verteidigung, daß der Rauschgifthandel nicht etwa von dieser V-Person eingefädelt wurde? Wurde da vielleicht jemand hereingelegt? Diese Fragen sind gerichtlich nicht mehr überprüfbar, weil der, auf den der Sachbeweis zurückgeführt wird, geschützt werden muß.

Wie man am 11. September 2001 gesehen hat, ist die westliche Zivilisation höchst störanfällig. Gibt es nicht doch die Notwendigkeit, bestimmte Sicherheitsvorkehrungen zu treffen?

Natürlich gibt es kritische Infrastrukturen, die des Schutzes bedürfen. Gegen die körperliche Durchsuchung an Flughäfen würde kein vernünftiger Mensch etwas einwenden. Allerdings existieren Risiken wie die Atomenergie, die selbstgemacht sind. Außerdem stellt sich die Frage, ob Maßnahmen, die mehr Sicherheit schaffen sollen, tatsächlich dazu geeignet sind. Beispielsweise schafft man durch die Aufnahme biometrischer Merkmale in Ausweispapiere eine weitere kritische Infrastruktur, weil auch sie nicht fälschungssicher sind, aber andere Infrastrukturen darauf aufbauen und dadurch gefährdet sind.

Viele Sicherheitsstrategien produzieren selbst Unsicherheit im Hinblick darauf, was die staatlichen Behörden tun dürfen oder nicht. Für die meisten ist das ein relativ nachrangiger Begriff von Sicherheit.

Wie sieht denn ein bürgerrechtlich grundierter Sicherheitsbegriff aus?

Zur Zeit werden Probleme geschaffen, mit denen sich am Ende wieder die Polizei auseinandersetzen soll. Deshalb fängt ein bürgerrechtlicher Sicherheitsbegriff bei der Analyse der Entstehung von gesellschaftlichen Problemen an. Da sich abweichendes Verhalten und Kriminalität nicht einfach auflösen läßt, muß man überlegen, wie das Strafverfolgungssystem aussehen muß, und dafür sorgen, daß Strafen verhängt werden, die kriminelle Karrieren nicht befördern, sondern nach Möglichkeit unterbrechen. Man muß weiterhin überlegen, wie die Polizei- und Strafverfolgungsbehörden organisiert sein müßten, wie die Bürger an der Gestaltung von Polizeiarbeit beteiligt und die Kommunen angebunden werden können.

Vor dem Hintergrund dessen, was sie beschrieben haben: Welche Bilanz ziehen Sie?

Eindeutig eine negative. Obwohl der Rechtsstaat nicht untergeht, ist der Wandel signifikant. Unter der Maßgabe des staatlichen Sicherheitsversprechens wird der Raum bürgerlicher Freiheit weiter erheblich beschränkt, und eine gegenläufige Tendenz gibt es nicht. Die Mehrzahl unserer Mitmenschen ist außerdem vollkommen unbekümmert. Die meisten Menschen stört es nicht, auch die intimsten Dinge auf dem Handy in der U-Bahn zu besprechen, und es ist ihnen offenkundig auch egal, wenn staatliche Stellen wissen, wo sie gerade sind, was sie einkaufen und welche Seiten sie im Internet besuchen. Deshalb läuft die bürgerrechtliche Kritik so häufig ins Leere, weil sich die meisten in ihrem Verhalten von den neuen Befugnissen überhaupt nicht beeinflussen lassen.

Was die Einsicht in die Problematik darüber hinaus erschwert, ist, daß die meisten Regelungen nur bei bestimmten Gruppen virulent werden. Und die meisten gehören nicht zu diesen Gruppen. Ihr Verhalten wird nicht beeinträchtigt, und ob für sie in der gegenwärtigen Situation ein realer Freiheitsverlust zu befürchten ist, wage ich zu bezweifeln. Aber niemand kann garantieren, daß die Instrumentarien zur Verbrechensbekämpfung nicht an ganz anderer Stelle angewendet werden.

Interview: Benno Kirsch

 
 
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