Die gemeinsame Betroffenheit
ist verloren gegangen
Was bleibt von der selbstorganisierten
Stadtteilarbeit in den Ostberliner Innenstadtbezirken?
Zu viele Autos belagern die schmalen
Straßen, Kaffeehausbestuhlung fällt über
das ohnehin knappe Trottoir her, Touristen strömen, Baustellen
lärmen: Wer in der Spandauer Vorstadt Erholung von solcher
Hektik sucht, den erwartet, nur einen Steinwurf vom Monbijoupark
entfernt, eine versteckt gelegene Oase: Im Blockinneren zwischen
Krausnick- und Oranienburger Straße öffnet sich der
Krausnickpark all jenen, die über einen unauffälligen
Zugang den Absprung von der Straße wagen.
Verschlungene Wege geleiten durch eine
hügelige Landschaft, die vor allem ein Paradies für
Kinder (und geplagte Eltern) ist. Hier ein windschiefes
Hexenhäuschen, dort ein Piratenschiff mitsamt Schatzkiste,
Hängematten baumeln, und hölzerne Liegen laden zum
Sonnen ein.
Möglich gemacht haben dieses Refugium
engagierte Anwohner. Sie sind es, die sich nun um die Pflege der
Grünfläche kümmern und die mitbestimmt
haben, unter welchen Bedingungen der öffentliche
Blockinnenbereich genutzt werden darf: Nur bis abends um neun
nämlich und ohne Zigarette im Mundwinkel. Ein
Kompromiß also zwischen Anwohner- und öffentlichen
Interessen, möglich gemacht durch sicher nicht
uneigennütziges gemeinschaftliches Engagement im
Kiez.
Weiter im Norden, an der Oderberger
Straße, erstritten vor über zwanzig Jahren aktive
Anwohner unter gänzlich anderen Bedingungen ein vergleichbares
Vorhaben, den „Hirschhof". Sie kaperten die unterste Ebene
des politischen Repräsentationssystems der DDR, den
Wohnbezirksausschuß der Nationalen Front (WBA). Durchaus mit
Unterstützung kommunaler Behörden und unter
argwöhnischer Beobachtung der Stasi setzte der unterwanderte
WBA eine Zusammenlegung und Begrünung mehrerer
Hofgrundstücke durch. Der Hirschof wurde zu einem beliebten
Treffpunkt der oppositionellen und alternativen Szene Ostberlins, und
sein Zustandekommen Vorbild für einige weitere
Bürgerinitiativen.
Was folgte, ist bekannt. Die DDR kollabierte und
eröffnete dabei ungeahnte Freiräume zur
gemeinschaftlichen Aneignung der Stadt: Häuser wurden besetzt,
Veranstaltungsräume geschaffen,
Straßenräume auf eigene Faust gestaltet und als
Bühne für Straßenfeste genutzt. Dann
rückte mit der BRD ein anderes staatliches System heran, das
zwar mehr Vielfalt zuließ und größere
Aushandlungsspielräume bot, doch übergab es einen
großen Teil der Regulation an den kapitalistischen Markt.
„Wer es nicht gewohnt ist, Rechte
einzufordern, zieht in dieser Welt schnell den Kürzeren"
Die Transformation zeigte sich zunächst
noch als staatliche Veranstaltung. Gegen Restitution per
„Rückgabe vor Entschädigung" und gegen die
gesetzlich gesteuerte Erhöhung der Mieten wurde erneut ein WBA
organisiert: „Wir Bleiben Alle" hieß es nun, um die
Problematik der Verdrängung all jener Mieter zu thematisieren,
die nicht über genügend Einkommen verfügten.
Rabiate Methoden einiger Neueigentümer, die Mieter schnell
loszuwerden versuchten, wurden ebenso skandalisiert wie angesichts der
damaligen Wohnungsnot bestehende massive Leerstände. Dabei
verband das WBA-Bündnis, auf bestehende Netzwerke in den
Stadtteilen zurückgreifend, Engagierte aus verschiedensten
sozialen Milieus.
Etwa zeitgleich zogen die Sanierungsexperten aus
dem Westen über Ostberlin her. Im Gegensatz zu den Erfahrungen
mit einer mehrheitlich an Abriß und Neubau orientierten
Baupolitik in der DDR wurde deren Know-how in puncto behutsame
Stadtsanierung zunächst als Bereicherung empfunden. Sie
brachten das komplizierte Instrumentarium mit sich, das in
Sanierungsgebieten Betroffenenvertretungen etwas Mitsprache
einräumte und Rechte der Mieter gegenüber
Hauseigentümern installierte. Doch wer es nicht gewohnt war,
Rechte einzufordern und sie gegenüber professionell agierenden
Eigentümern durchzusetzen, zog in dieser hoch formalisierten
Welt der Auseinandersetzung schnell den Kürzeren.
Engagierte Kiezbewohner brachten sich nun in die
Betroffenenvertretungen ein, wo Spielplätze,
Verkehrsberuhigungen und Denkmalschutzbestimmungen diskutiert wurden.
Hier konnten auch die Interessen von Stadtteilgruppen artikuliert und
im Falle günstiger Bedingungen erfolgreich
unterstützt werden. Günstig war es, wenn die
Bezirkspolitik mitzog und Gelder zur Umsetzung von Forderungen
bereitgestellt werden konnten.
Am Teutoburger Platz stritt die Anwohnerinitiative
für eine Platzgestaltung, die die Interessen
unterschiedlichster Kiezbewohner berücksichtigte. Niemand
sollte ausgeschlossen werden. Auch die Kiezalkis nicht. Und so bietet
sich heute bei gutem Wetter auf dem Platz ein enormes Treiben:
Sonnenanbeter braten auf der Wiese, Dreikäsehochs versuchen
auf Laufrädern die Schallmauer zu durchbrechen, Jugendliche
spielen Basketball und Kinder am Brunnen, während die
Älteren aus sonnengeschützten Sitzecken den Platz
überblicken können. Mit etwas Glück wird
Kuchen aus dem Platzhäuschen gereicht, das auch Austragungsort
für Veranstaltungen und Partys ist. Die Anwohnerinitiative
erhielt das Platzhaus zur freien Benutzung und verpflichtete sich im
Gegenzug dazu, mittels mehrmals im Jahr stattfindender
Arbeitseinsätze den Platz in Schuß zu halten.
„Heute können
Immobilienunternehmen ihre Gewinne nur noch über
Mietstegerungen realisieren"
Doch die im Kiez Aktiven mußten auch
einige herbe Dämpfer erfahren. Matthias Bogisch, der seit 1990
in einem Hausprojekt in der Lottumstraße lebt, berichtet von
einer weiteren Freifläche im Kiez, nahe der
Torstraße, für die ebenfalls
Gestaltungspläne nach Wünschen der Anwohner erstellt
worden waren. Doch der damals zuständige Bezirksstadtrat
Matthias Köhne habe das Ergebnis aufwendiger Arbeit
übergangen und einen der üblichen
Spielplätze bauen lassen. Der bleibt bis heute weitgehend
ungenutzt. „Wer sowas ein paar Mal erlebt, agiert irgendwann
mehr im eigenen Rahmen", beschreibt Bogisch den Rückzug
einiger Engagierter aus einer Stadtteilarbeit, die von der Gunst der
Bezirkspolitik abhängig ist.
Ein weiteres Ergebnis lokalen Engagements ist das
seit Mitte der 90er jährlich stattfindende Fest am Teutoburger
Platz, das in diesem Sommer zum ersten Mal ausfällt. Klaus
Höpner aus der
Christinenstraße, der stets bei der Organisation des Festes
beteiligt war, führt dies auf zwei Gründe
zurück. Zum einen sei man zunehmend pingeliger vom Ordnungsamt
beäugt worden. So sei im letzten Jahr ein
Bußgeldverfahren eingeleitet worden, weil ein Grillstand
lediglich nach zwei statt nach drei Seiten hin geschlossen gewesen sei.
Zum anderen sei der Kreis derjenigen, die sich bei der Organisation
Arbeit aufhalsen wollten, geschrumpft und für die
übrigen die Belastung zu hoch geworden.
Für den Politologen Matthias Bernt sind
es im Wesentlichen drei Einflußfaktoren, die Stadtteilarbeit
begünstigen: Die soziale Nähe im Kiez, politische
Einwirkungsmöglichkeiten sowie ein klarer Gegenstand als
Anlaß. In den 80er und frühen 90er Jahren seien die
innerstädtischen Kieze Ostberlins zwar kulturell und
altersmäßig sehr bunt gewesen, doch habe es eine
ähnliche soziale Lage und eine gemeinsame Betroffenheit
gegeben, die die Menschen zusammenführte. Die
Bürgerinitiativen hätten institutionelle
Möglichkeiten nutzen können, ihre Anliegen
einzubringen. Mittlerweile werde die Veränderung im Stadtteil
jedoch nicht mehr als staatliche Veranstaltung angesehen.
„Wenn Entwicklungen als private Geschichten angesehen werden,
klappt es nicht mehr, sie politisch zu fassen", so Bernt.
Darüber hinaus sei die gemeinsame Betroffenheit verloren
gegangen. Die soziale Lage in den verschiedenen Stadtteilen geht
inzwischen weit auseinander.
„Die soziale Nähe im Kiez,
politische Einwirkungsmöglichkeiten sowie ein klarer
Gegenstand als Anlaß begünstigen Stadtteilarbeit"
Dabei dürfte sich der Druck auf Mieter
wieder erhöhen. In den 90ern, als Hausmodernisierungen als
steuerliche Abschreibungsprojekte funktionierten, konnten viele Mieter
noch günstigere Verträge aushandeln denn
höchste Mieten zu erzielen, war für den Profit nicht
unbedingt nötig. Wenn heute Mietshäuser von
professionellen Immobilienunternehmen aufgekauft werden,
können sie ihren Gewinn nur noch über
Mietsteigerungen realisieren. Mietobergrenzen waren schon vor Jahren
gerichtlich gekippt worden, der Mietspiegel als wesentlicher
rechtlicher Anhaltspunkt steigt kontinuierlich.
Könnte eine aktive Stadtteilarbeit in
Zukunft also wieder an Bedeutung zunehmen? Und zwar nicht nur, um an
der Gestaltung von Stadträumen im Kiez teilzuhaben, sondern
auch die soziale Zusammensetzung zu schützen und insbesondere
die finanziell Schwächsten vor der Verdrängung aus
dem Kiez? Wenn Nähe und Vernetzung zentrale Voraussetzungen
für die Artikulation gemeinsamer Interessen sind, stellt sich
die Frage, wie sie heute, unter anderen Bedingungen wie jenen der
Wendezeit, hergestellt werden können.
Am Teutoburger Platz haben einige Engagierte auf
die schwindende Beteiligung an der Anwohnerinitiative reagiert. Ein
neuer Verein „Leute am Teute" wurde gegründet, der
die Pflege des Platzes übernimmt. Die Vernetzung findet auch
im Internet statt: Dort wurde ein Blog eingerichtet, über das
Termine, Aktivitäten und Probleme bekannt gegeben und
diskutiert werden. Es ist zu hoffen, daß die Bespielung des
Platzhauses und die Präsenz der Aktiven im Kiez ein
Entschwinden der Kommunikation in die Weiten des Internets verhindern
wird.
Michael Philips/Tobias Höpner