Das Märchen vom Echolot

Foto: Dirk Hempel/aus dem Begleitbuch
Es war einmal in der schönen
Hansestadt Rostock das wackere Ehepaar Kempowski, denen schenkte der
Herrgott 1929 einen Knaben, und den nannten sie Walter. Er hatte ein
sonniges Gemüt und blickte gar fröhlich in die Welt hinein.
Doch dann zerstörten feindliche stählerne Riesenvögel
die Stadt, der kleine Walter mußte in eine Strafeinheit der
Hitlerjugend und sein Vater wurde von einer Bombe getroffen, so
daß nichts von ihm übrigblieb.
Als ich zuletzt bei Walter Kempowski war, im
Dörfchen Nartum, gelegen zwischen Zeven und Rotenburg an der
Wümme bei Bremen, wirkte der Hausherr milde und bei allem Humor
etwas melancholisch.
Als wäre das noch nicht schlimm genug, geriet der
Knabe Walter ins Gefängnis und seine gesamte Familie mit ihm, die
geliebte Mutter und sein Bruder, und der Junge gab sich die Schuld,
Culpa. „Culpa!", schallte es durch die Gefängniszelle,
„Schuld!", wie ein Echo, das ewig zu seinem Ausgangspunkt
zurückgeworfen wird. Und wie das Echo mit größerer
Entfernung nicht leiser, sondern deutlicher wird, so hörte Walter
Kempowski es auch immer deutlicher, häufiger und mit
größerer Resonanz: „Culpa!"
Schon während seiner Haft in Bautzen hat Kempowski
Tagebuch geführt, doch sind diese Aufzeichnungen vernichtet
worden. Seit 1956 haben die Privatchroniken überlebt, die er nun
nach und nach veröffentlicht. Denn in den beiden großen
Komplexen von Echolot und Deutscher Chronik habe er zwar seine Familie,
Deutschland und sogar ganz Europa geschildert, aber noch fehle sein
Kommentar dazu.
Als wollte er beweisen, daß das aktuelle
Zeitgeschehen nicht an ihm vorüberlief, kam er auf die Vereinigung
Europas in der Europäischen Union zu sprechen, die im Grunde eine
sehr gute Sache sei. Nur drohe sie inzwischen nach Einführung des
Euro in Bewegungslosigkeit zu erstarren.
Erst nach vielen schweren Jahren voller Entbehrungen,
oft genug nur bei Wasser und Brot, kamen sie alle wieder in Freiheit.
Aber es erklang weiter: „Culpa!" Kempowski begann, seine Schuld
abzutragen, indem er wunderbare Romane schrieb. Erst einen über
die Gefängniszeit, damit diese vielen Jahre einen Sinn hatten,
für ihn und all die Knastrologen, mit denen er zusammen gewesen
war. Als nächstes baute er Rostock wieder auf und seine Familie,
stellte alles auf dem Papier wieder her und erweckte so diejenigen, die
tot und vergessen waren, wieder zum Leben, holte sie zurück in die
Erinnerung.
Aber obwohl die Leser ihn liebten, den Humor, die
Genauigkeit und seine Kunstfertigkeit lobten, war er nicht recht
zufrieden, etwas fehlte. Er sammelte Tagebücher von vielen
Unbekannten, aber es fehlte immer noch etwas. Noch immer hörte er
es rufen: „Culpa!"
Er arbeitete sich durch die schrecklichsten Zeugnisse
der Deutschen, durch die blutigsten und schauderhaftesten Unterlagen,
die sich Menschen auch nur ersinnen könnten, und er zermarterte
sein Hirn Tag und Nacht, wie er diese Schätze, die
Vermächtnisse der Toten, für die Nachwelt erhalten
könnte. Er kaufte sich einen italienischen Computer, später
einen deutschen und schließlich amerikanische mit je einem bunten
Apfel darauf. Er tippte alle Tagebücher in die Computer ein,
begleitet und unterstützt von seiner lieben Frau Hildegard und
einigen Getreuen in seinem Haus Kreienhoop, das er sich zu diesem Zweck
errichtet hatte.
Es war aber kein gewöhnliches Haus, sondern ein
Echogewölbe, manche nannten es auch Sprachgewölbe. Es war so
gebaut, daß das, was an einem Punkt in seinem Innern leise
gesprochen wurde oder in einen Computer eingetippt, an bestimmten
andern Punkten gehört werden konnte oder sogar gelesen.
Als ich Kempowski zuletzt besuchte, schrieb er an seinem
„definitiv letzten" Roman Alles umsonst und hatte bereits fast
200 Seiten vollendet. Denn dem Werk seiner Romane fehle der
Schluß-Stein. Noch einmal, wie in Mark und Bein von 1991, ist
Ostpreußen das Thema. Aber im Gegensatz zu dieser
„Episode", deren Handlung in den späten achtziger Jahren
angesiedelt ist, spielt das letzte belletristische Buch des Autors im
Jahr 1945.
Noch einmal ging es darin um die Frage der Schuld, ein
Überthema in Kempowskis Werk. Unangenehm war ihm, daß durch
verstärkte Fernsehberichterstattung der Eindruck entstehen konnte,
er springe mit dem Thema des Kriegsendes 1945 auf einen fahrenden
Erfolgs-Zug auf, dabei hatte er diese Arbeit schon konzipiert, als noch
keinerlei Interesse dafür zu erkennen war. Aber da dieses Thema,
dieser Stoff aus inneren Gründen seine ganze „Produktion"
abschließe, müsse er das Material unbedingt gestalten.
Inzwischen diktiert Kempowski, schwer krank, seinen wohl wirklich letzten Roman.
Niemand wollte ihm glauben, als er Unterstützung
suchte für sein großes Werk, alle hielten es für
Wahnsinn. Aber unbeirrt brachte Walter Kempowski das gewaltige Projekt
voran und wurde darüber alt und grau. Er gewann den Lektor Bittel
von Bertelsmann als Kameraden und gemeinsam, gegen alle
Widerstände finsterer Mächte, brachten sie in vielen Jahren
Arbeit schließlich in edlem weinroten Leinen und fadengeheftet
ein Werk ans Tageslicht, wie es die Welt noch nicht gesehen hatte: Das
Echolot, ein kollektives Tagebuch.
Die Seelen der Toten waren darin auf edlem Papier
erlöst, das vielfache Leiden war nicht umsonst gewesen. Zeugnis
legten sie ab in einem Kunstwerk, jede Stimme wurde zum Singen
gebracht. Wie Diamanten glänzten die Vermächtnisse derer, die
gestorben waren, ein jeder war für sich poliert. Aber auch dunkle
bedrohliche Kristalle mit bösen Facetten waren darunter, damit es
gerecht zuginge in diesem kollektivem Tagebuch und nicht etwa die
Deutschen besser schienen als sie waren. Mal folgten die Schicksale wie
Perlen auf einer Schnur, dann wieder bauten sie sich auf wie
Orgelpfeifen eines genialen Baumeisters, mal lagen sie nebeneinander
wie Landkarten eines unheimlichen Kartographen. Seite um Seite
enthüllten sich die Lebenswege und fügten sich beim Leser zu
einem Bild menschlicher Leidenschaften. So wie die Göttliche
Komödie als Negation: die menschliche Tragödie. Und ganz
klein darin versteckt war er auch selbst: Walter Kempowski.
Niemand glaubte, ein Mensch könne ein so gewaltiges
Werk von zehn dicken Bänden jemals vollenden, doch dann, nach
über einem Dutzend Jahren, brachte er es zum Abschluß, und
es war insgesamt noch besser als irgend jemand erwartet hatte. Und als
der alte Dichter, der er inzwischen geworden war, den zehnten und
letzten Band in der Hand hielt, da fehlte wieder etwas. Er
überlegte, was es sein konnte, und da hörte er es, oder
vielmehr hörte er es nicht. Der Ruf „Culpa!",
„Schuld!", er war verstummt. Auch seine eigene Seele hatte ihren
Frieden gefunden.
Ich fragte Kempowski zuletzt, ob es eine religiöse
Motivation, christliche Gründe dafür gebe, daß er in
seinen Büchern „Culpa", die Schuld der Deutschen auf sich
nehme. Kempowski kam auf die Erbsünde zu sprechen, nach der die
Menschen schon durch ihr Bewußtsein schuldig seien. Doch
gehörte Kempowski keiner Kirchenreligion an, stand aber im Sinne
der Theologie der christlichen Kirche nahe. Er bete also nicht,
beschäftige sich jedoch häufig mit der Bibel, die er schon
aus seiner Zuchthaus-Zeit sehr gut kannte, als sie die einzige
zugängliche Lektüre war. Damals war er sowohl katholischer
als auch evangelischer Kantor und hat dadurch die Kirchenmusik sehr
intensiv kennengelernt. Er habe so viele Choräle gesungen,
daß er bestimmt in den Himmel komme.
Und bei der Feier zur Vollendung des Werkes im feinsten
Haus der deutschen Hauptstadt Berlin, Unter den Linden Nummero 1, da
setzte sich sogar der Bundespräsident neben ihn und gratulierte,
und alle waren sie da, ihn zu feiern: Seine liebe Frau und der Sohn,
der erste Verleger und die talentiertesten Autoren und Redakteure der
wichtigsten Zeitungen, und sie alle liebten ihn und sein Werk, das er
geschaffen hatte.
Die Vermutung, daß seine Haftzeit in Bautzen in
einer an Dostojewski erinnernden Umgebung zum Echolot beigetragen haben
muß, dieses gemeinsame „Sitzen" mit SS-Leuten, Kommunisten
und normalen Verbrechern, diese Vermutung konnte Kempowski
bestätigen. Auf gewisse Weise sei dieses Dekor in seiner Literatur
nachgestellt, schon damals sei er „rumgelatscht" und habe die
Leute befragt, nur konnte er keine Aufzeichnungen machen.
1991 erschienen die ersten Bände des Echolots, aber
als Günter Grass 2002 Im Krebsgang veröffentlichte, glaubten
viele, Grass habe sich als erster dem großen Thema der deutschen
Heimatvertriebenen gewidmet. Kempowski vermutet finanzielle Gründe
dafür, daß Grass' Buch nicht so teuer wie seines gewesen
sei. Das Echolot sei nun einmal nicht billig und außerdem sehr
dick, man müsse sich hindurchfressen. Und sehr fraglich sei dann
immer noch, ob es ein Schlaraffenland ist, was man dabei entdecken kann.
Und da er nicht gestorben ist, lebt er noch heute und
schreibt weiter Romane, einer immer feiner als der andere, und auch
Tagebücher und sogenannte Zöpfe, aber davon muß
woanders erzählt werden, denn beim Happy End wird abjeblendt!
Falko Hennig
„Kempowskis Lebensläufe". Noch bis zum 15. Juli in der Akademie der Künste, Pariser Platz 4, Di bis So 11 bis 20 Uhr.
Begleitbuch zur Ausstellung: Dirk Hempel, Kempowskis
Lebensläufe. Herausgegeben von der Akademie der Künste,
Berlin 2007, 19,90 Euro.