Der Inbegriff von Freiheit
Mein Traumberuf als Streckenläufers
Kosmonaut werden oder zur Eisenbahn gehen in der
Wuhlheide lagen für mich beide Kindheitsträume nah
beieinander. Nur schienen die Sterne greifbarer zu sein als die
Schiene. Das Kosmonautenzentrum mit Sojuskapsel und Schwindeltraining
bekam ich bei jedem meiner Besuche im Pionierpalast von innen zu sehen.
Eine Fahrt in der tollen Pioniereisenbahn mit ihren orange-weißen
Waggons und der blauen Diesellok blieb mir dagegen lange Jahre verwehrt.
Mein ständiges Quengeln war vergebens. Meinen
Eltern fehlte einfach die Lust, ewig auf den schlichten Bahnsteigen
herumzustehen, um dann eine Runde um den Pionierpark kutschiert zu
werden. „Die fährt heute nicht", lautete ihre klassische
Ausrede. Wenn sie aber fuhr, dann direkt an uns vorbei.
Das war immer ein tolles Erlebnis. Wenn sich die
Schranken hinter dem Haltepunkt Badesee schlossen, postierten sich
zusätzlich zwei Kinder in blauen Uniformen und mit roten
Halstüchern am Bahnübergang. Mit rot-weißen Fahnen und
viel Souveränität hielten sie mich und die anderen staunenden
Münder von den Schranken fern. Sobald der Zug heran rollte,
salutierten sie der jaulenden Diesellok mit dem Pioniergruß.
Ich wollte auch zur Pioniereisenbahn. Die
Pioniereisenbahn war die Kaderschmiede der Deutschen Reichsbahn. An
jedem Bahnhof informierten Plakate über die
Karrieremöglichkeiten bei der AG Junge Eisenbahner. Man konnte
Fahrdienstleiter oder Schaffner werden und ab 16 sogar Lokführer.
So hohe Ziele hatte ich gar nicht. Ich wollte Streckenläufer
werden, mit einer Warnweste zwischen den schmalen Schienen von Bohle zu
Bohle hopsen und hin und wieder mit einer Stange gegen die Schienen
hauen. Das ging schon ab acht und war für mich der Inbegriff von
Freiheit.
Meine erste Runde mit der Bahn drehte ich heimlich. Ich
stieg in den Herbstferien 1987 auf mein Klapprad, fuhr zum Pionierpark
und kaufte mir eine Fahrkarte. Ein Traum wurde wahr, der andere
zerplatzte kurz darauf. Nach der Fahrt nahm ich all meinen Mut zusammen
und fragte einen jungen Eisenbahner, ob ich nicht auch mitmachen
könnte, als Strekkenläufer natürlich. Der blonde Junge
war etwa zwei Jahre älter als ich und trug sein dunkelblaues
Käppi leicht schräg und voll lässig auf dem Kopf.
Hinterm Fahrkartenschalter gackerten zwei Mädchen über ihn.
„Kannste vergessen!", raunte er. „Voll die langen
Wartelisten, haste eh keene Chance." Das waren harte Worte.
Ich fühlte mich gedemütigt. Schließlich
kannte ich alle Lokomotivbaureihen, alle Schilder und Signale. Aus der
Eisenbahnerkarriere wurde nichts mehr. Der Zug war abgefahren. Ein
vielleicht dreizehnjähriger Piefke hatte ihm grünes Licht
gegeben. Die Strecke lief ich trotzdem gelegentlich ab. Das ging auch
ohne orange Weste.
Nach der Wende wurde aus dem Pionierpark das FEZ. Die
Pioniereisenbahn überlebte als Berliner Parkeisenbahn. Aus der
Arbeitsgemeinschaft wurde eine gGmbH. Das ohnehin schon große
Streckennetz wurde erweitert. Seit Mitte der Neunziger kann man schon
am S-Bahnhof Wuhlheide von 1435 auf 600 Millimeter Spurweite umsteigen.
Sonst schien alles beim Alten geblieben zu sein. Jetzt kämpft die
Schmalspurbahn in Oberschöneweide ums Überleben.
Die Schlagzeile am 21. April war ein Schock.
„Brandstiftung bei der Parkeisenbahn". Wie kann jemand meinen
Kindheitstraum zerstören? Ein Teil des Fuhrparks ist nach dem
Brand völlig zerstört. Der Schaden wird mit etwa einer halben
Million Euro bemessen. Was tun? Auf der Website der Parkeisenbahn gibt
es eine umfangreiche Liste mit Spendenkonten und Vorschlägen
für Materialspenden. Ich habe mich für die einfachste und
effektivste Möglichkeit entschieden. Ich werde mir eine Fahrkarte
für die Mondscheinfahrt der Parkeisenbahn am 9. Juni kaufen und
nachts durch die Wuhlheide zuckeln.
Jens Steiner