Ausgabe 05 - 2007 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

Berlin 1907

7. Juni bis 5. Juli

Foto: Archiv Hennig

Der seltene Fall, daß ein Zivilgericht die Prozeßverhandlung aussetzt, weil es an der Zurechnungsfähigkeit des Klägers Zweifel hegt, ereignet sich Anfang Juni vor der fünften Kammer des Kaufmannsgerichts. Kläger ist der Kontorist Albert M., der gegen eine Wein- und Delikatessen-Agentur einen Restgehaltsanspruch erhebt. Schon in dem vorangegangenen Vergleichstermin war durch die konfusen Klagebegründung und den sinnlosen mündlichen Vortrag dem Vorsitzenden, Magistratsassessor Korn, Bedenken bezüglich des geistigen Zustandes des Klägers aufgestiegen, und er hatte letzterem aufgegeben, zur Verhandlung ein ärztliches Attest darüber beizubringen, daß er geistig intakt sei.

Diesem Verlangen ist M. jedoch nicht nachgekommen, drückt vielmehr den Beisitzern gegenüber seine Entrüstung aus, daß der Vorsitzende ihn nicht für normal halte; er müsse denn gerade bei der letzten Firma verrückt geworden sein. Er trägt dann noch einmal seine Klage vor, und nach längerer Beratung erklärt denn auch die vollbesetzte Kammer den Kläger für nicht verhandlungsfähig und trägt ihm auf, erst ein ärztliches Attest über seinen Gesundheitszustand beizubringen.

Bei einem Einbruch in die Gemeindekasse von Niederschönhausen erbeuten in der Nacht zum 11. Juni Einbrecher 13000 Mark. Das Niederschönhauser Gemeindehaus liegt in der Straßenfront am Kaiser-Wilhelm-Platz. Die Hinterfenster gehen nach dem Park und dem freien Felde hinaus. Im Erdgeschoß hat der Gastwirt Ludwig seine Schank- und Wohnräume, im Obergeschoß liegt das Gemeindebureau, auf dem Boden hat Ludwig allerhand Sachen untergebracht.

Den Einbrechern, ohne Zweifel gewerbsmäßigen Geldschrankknackern, kommt der große Brand der Schneidemühle in Französisch-Buchholz zustatten. Der Brand bringt ihnen mit seinem weiten und hellen Feuerschein Licht und lenkt außerdem die Aufmerksamkeit der Einwohnerschaft, auch des Gemeindedieners, der außer Ludwig noch im Gemeindehaus wohnt, von allem anderen ab.

Nachdem sich die Einbrecher mit Nachschlüsseln Zutritt zum Haus verschafft haben, räumen sie auf dem Boden Ludwigs Sachen soweit weg, daß der Fußboden über dem Kassenraum der Gemeinde freiliegt. Sie bohren nun die Decke an, schneiden ein Stück heraus und steigen in die Gemeinderäume hinab.

Sie finden im Geldschrank außer Büchern, die sie durchstöbern, Wertpapiere und 13000 Mark bares Geld. Nur dieses nehmen sie mit, die Wertpapiere, die erst auch vermißt werden, finden sich später wieder. Zum Ausgang benutzen die Diebe wahrscheinlich denselben Weg, auf dem sie gekommen sind. Als man am Morgen zum Dienstantritt die Bureauräume aufschließt, sieht man die Bescherung. Die Gemeinde ist gegen Einbruchsdiebstahl versichert. Die polizeilichen Nachforschungen nach den Dieben, bei denen die Berliner Kriminalpolizei mitwirkt, haben bisher noch keinen Erfolg.

„Wärme-Schutzmäntel" tragen versuchsweise viele Lokomotiven der preußischen Staatsbahnen. Sie sollen nicht gegen Kälte, sondern gegen Wärme schützen und zwar das Lokomotiv-Personal, das im Sommer ganz besonders unter den Ausstrahlungen des glühendheißen Kessels zu leiden hat. Die in das Führerhaus hineinragenden Flächen des Kessels sind zu dem Behufe mit Asbestmatten ausgekleidet, und dadurch wird eine merkliche Ermäßigung der hier zeitweise herrschenden Hitze herbeigeführt. Die neue Einrichtung wird von den Lokomotiv-Mannschaften angenehm empfunden und hat ihnen schon im vorigen Sommer, besonders auf den Tender-Lokomotiven, den Dienst wesentlich erleichtert. Auch mit den zum Schutze gegen Abkühlung an den Dampfzylindern und Schiebekästen angebrachten Wärme-Schutzmänteln wurden günstige Erfahrungen gewonnen; hier gilt es, die Hitze zugunsten der Lokomotive beisammen zu halten, die dann weniger Heizmaterial verbraucht. Im Hinblick auf diese günstigen Betriebsergebnisse hat Minister Breitenbach angeordnet, daß die neu zu beschaffenen Lokomotiven allgemein mit Wärmeschutzmänteln versehen und die Beobachtungs-Ergebnisse ihm nach zwei Jahren mitgeteilt werden.

Falko Hennig

Nächste Veranstaltung von Falko Hennig: 17. Juni, 14 Uhr, Babylon, Oval: Radio Hochsee Nachmittag, Muppetshow für Kinder und Erwachsene, Gast-Experte: Jörg Tensing.

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