Er machte sich eine Notiz
Die ausufernden Notate des 1900-scheinschlag-Kolumnisten Falko Hennig

Falko Hennig war einer der ersten Autoren, die mir, als
ich selbst noch ausschließlich Zuschauer war, auf den Berliner
Lesebühnen aufgefallen sind. Um Papier zu sparen, las er seine
Texte meist vom Laptop ab und trug dabei fast das ganze Jahr über
kurze Hosen und Sandalen. Manchmal verschenkte er an Interessierte aus
dem Publikum aussortierten Kram aus seiner Wohnung, der ihm zu schade
zum Wegwerfen war.
Sein erstes Buch Alles nur geklaut enthielt so viele
faszinierende Szenen, daß es gar nicht störte, daß der
Lektor offenbar betrunken gewesen war, als er die Wortwiederholungen
kontrollieren sollte. Aber wie bei guter Musik machte es gar nichts,
daß die Platte kratzte, das Buch ist für mich der einzige
legitime Wenderoman, weil die DDR anhand einer Kleinkriminellenkarriere
beschrieben wird, wie wir sie damals zwangsläufig alle
geführt haben. Der erste Satz lautet: „Bei mir hat es im
Kindergarten angefangen." Bei mir auch! Einmal berichtet der Held, wie
er beim Altstoffhändler eingebrochen ist und sich im Altpapierberg
eine Höhle eingerichtet hat, wo er ganze Tage umgeben von alten
Zeitungen verbrachte, viele aus dem Westen. Oder er landet beim
Versuch, im Palast der Republik einzubrechen, um in die ausverkaufte
Loriot-Vorstellung zu kommen, in der Volkskammer. Bei den meisten
Episoden stand ich sozusagen direkt daneben, Loriot habe ich zum
Beispiel damals durch Zufall vom Palasthotel (inzwischen abgerissen)
zum Palast (bald abgerissen) gehen sehen, die Kartensucher standen bis
zur Spandauer Straße, einer fragte sogar Loriot selbst, ob er
eine Karte habe.
Was mir Falko Hennig so sympathisch macht, ist seine
fast makellose Erfolglosigkeit, wenn man einmal davon absieht,
daß er einzigartige Texte schreibt, aber wenn man damit kein Geld
verdient, kann man irgendwann auch nicht mehr weitermachen. Deshalb
schreibt er schon keine Gedichte mehr, weil er diese Form inzwischen
für ökonomisch unsinnig hält. Ich glaube, er gehört
zu den wenigen Autoren, denen Geld nichts anhaben könnte, er
würde im Gegenteil viel besser funktionieren.
Aber alle Strategien, den Erfolg herbeizuzwingen, gehen
bei ihm daneben: Wenn er 1000 Werbekarten verschickt, kommen 999
zurück, weil die Straßen umbenannt worden sind, wenn er
für eine Pressekonferenz ein Büffet organisiert, ist gerade
Champions-League-Finale und kein Journalist kommt, seine Filmkamera und
die Fototasche, die er immer mit sich führt (da er immer dann
Motive entdeckt, wenn er sie nicht dabei hat), läßt er alle
paar Tage irgendwo liegen. Wenn er sich in einem Café hinsetzt,
gehen die Gläser an den Nachbartischen zu Bruch. Er nutzt die
Gelegenheit, um die Geschädigten mit Flyern seiner nächsten
Veranstaltungen zu trösten, was meistens nicht so gut ankommt.
Falko Hennig steht in der Tradition der großen
Tagebuchschreiber, der Brüder Goncourt, Thomas Manns und vor allem
Walter Kempowskis. Seine Chronik ist ein Lebensroman von
Fundstücken, Zumutungen des Daseins und Selbstbeschwörungen
zur Arbeit, sie enthält aber auch herrliche Beschimpfungen von
dreistem Servicepersonal, unabgeschickte Drohbriefe an Kritiker und
detaillierte Krankheitsbeschreibungen. Die tröstliche Komik des
Lamentos ist hier zu bewundern. Daß ich vor fünf Jahren
selbst angefangen habe, nach einer längeren Pause wieder Chronik
zu schreiben, lag sicher hauptsächlich an ihm. Mein Traum war es
immer, beide Versionen der Wirklichkeit in einer Lesung gemeinsam zu
präsentieren, daraus entstand die Idee der „Weltchronik",
unserer monatlichen Veranstaltung im Filmkunsthaus Babylon.
Es ist immer unterhaltsam, bei einer Veranstaltung neben
Falko zu sitzen, weil man dann in seinem aktuellen Notizbuch
blättern darf. Seltsamerweise ist ihm das nicht unangenehm, sogar
seine Frau dürfte das, wobei sie gar nicht will. Beschimpfungen,
die nicht für die große Öffentlichkeit bestimmt sind,
faßt er in einer eigenen Geheimschrift ab. Das älteste
Tagebuch stammt von 1981, Notizbücher füllt er seit August
1998, als er in Ungarn wegen eines vergessenen Netzteils nicht mit dem
Laptop schreiben konnte. Je nach Auftragslage und Dicke des Notizbuches
schreibt er eines in zwei bis sechs Wochen voll, allerdings klebt er
auch fremde Einkaufszettel hinein, die er auf der Straße gefunden
hat.
Im Moment steht Falko Hennigs berufliche Existenz aus
ökonomischen Gründen auf der Kippe. Solange sein
rundüberholter Trabant-Kübel keinen Käufer findet,
richten sich seine Hoffnungen auf ein Lehrerstudium. Davon könnte
ihn und unsere Kinder nur der erfolgreiche Verkauf seiner
Notizbücher erlösen, von denen er sich schweren Herzens
trennen will. Es sind bibliophile Kostbarkeiten, deren Preis sich nach
Dicke, Inhalt und buchbinderischen Details richtet, von 50 Euro
(dünn, mit wenig Fotos) bis 1000 Euro (echtes Leder, viele, auch
pornographische Fotos).
Jochen Schmidt
Anfragen an Falko Hennig:
radiohochsee@web.de
www.dieweltchronik.de